Heft 
(1879) 26
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6. Lhrlich in Berlin.

Jahre in Petersburg geschaffen hat, als er zu gleicher Zeit dem Conservatorium Vorstand und daselbst lehrte, die Concerte der Musikgesellschaft einstudirte und dirigirte, und dabei noch das seiner Stellung und seinem Ruhme angemessene Haus führte, was in Petersburg noch ganz andere Ausgaben bedingt, als in den. übrigen Großstädten st. Es darf aber wohl auch behauptet werden, daß er ohne jenen langem Aufenthalt in der russischen Hauptstadt jene Vorliebe für- orientalische und slavische Melodik nicht in dem Maße ausgebildet und ihr weniger Raum in seinen Opern und Liedern gewährt hätte. In einer Gesellschaft, welche alles Neue, Originelle mit besonderem Vergnügen ausnimmt, der selbst das Exccntrische willkommen ist, wenn es nur dem Raffinement dient, wird der Künstler gar leicht verleitet, manche Eigenthümlichkeit, mit welcher er glückliche Erfolge errungen, immer mehr auszubilden, ohne zu prüfen, ob diese Eigeu- thümlichkeit nicht eigentlich mehr als eine Beigabe, als ein nur gelegentlich anzuwendender Zierrath betrachtet werden müsse, denn als eine künstlerische Uranlage und als Grundlage für größere Werke, d. h. ob solche Effecte dem künstlerischen Urtheile als Stil oder als Manier erschienen? In einer Gesellschaft die ohne kulturhistorische Uebergangsperiode so schnell aus die Spitze der durch den Luxus geschaffenen Genüsse gelangt ist, und immerwährende, durch künst liche Reizmittel beförderte Erregung anstrebt, sich zwischen Enthusiasmus und Apathie bewegt, in einer solchen Gesellschaft wird der Künstler leicht verleitet, der imponirenden Kraft mehr Werth beizulegen, als der rein künstlerische Maß­stab ihr zuerkennt, und das Ueberschwängliche auch in den Werken walten zu lassen, in welcher die Einheitlichkeit, die musikalisch folgerichtige Durchführung der Gedanken als nicht zu beseitigende Bedingung des Kunstwerth es feststeht. Wenn nun zu solchen Umständen noch das hinzutritt, daß des Künstlers Naturell selbst in manchen Dingen den Neigungen des Landes und der Gesellschaft entspricht, daß er die Gefahren gar nicht meiden will, weil sie ihm als solche nicht erscheinen: so zeigt sich Manches als leicht erklärlich und nothwendig, was, wenn vereinzelt betrachtet, geradezu räthselhaft erscheinen könnte. Rubinsteins Bedeutung und seine Schwächen sind also aus der Wechsel­wirkung zwischen seinen Uranlagen, seinen Neigungen, und dem Einflüsse der russischen Gesellschaft auf diese Neigungen herzuleiten.

Ruhmvoll und unermüdet verwaltete er seine Aemter; aber er mußte zuletzt doch fühlen, daß solche Thätigkeit und solches Leben seine Schaffens­kraft lähmte; und er faßte den Entschluß, seine Stellung aufzugeben, die Sehnsucht nach einem bewegten Centrum des Musiklebens zu befriedigen. Er ging 1868 nach Deutschland und Oesterreich, wo ihn überall Enthusias­mus empfing, und wo er in drei Wintern nacheinander Concertreisen unter­nahm. Im Jahre 1872 dirigirte er das Musiksest in Düsseldorf und

Z Neben einer Masse großer und kleiner Jnstrumentalwerke die geistliche Oper: Thurm von Babel" undFeramvrs"!