Heft 
(1879) 26
Seite
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Die staatliche und sociale Entwickelung Japans. -

Irrungen gewesen, deren unheilvolle Folgen, für das Land sowohl, wie für uns, nicht ausbleiben konnten; sie find jedoch in der menschlichen Natur begründet und daher wohl zu entschuldigen. Nichts war natürlicher, als daß die Bekehrung gerade desjenigen Volkes, welches sich Jahrhunderte hindurch als der hartnäckigste und fanatischeste Feind des freien Völkerverkehrs erwiesen hatte, Europa mit Stolz und Jnbel erfüllte. Es war die Freude über den ersten Erfolg der eivilisatorischen Mission Europas in Ostasien, ja im Oriente überhaupt; selbst­verständlich hatte die Begeisterung des realistischen Europas auch einen materiellen Grund: Befriedigung in diesen Jahren der Ueberproduction einen neuen viel­versprechenden Consumeuten für seine Manusacturen gesunden zu haben.

Wie dem aber auch sei, und ohne abzuwarten, wie das Urtheil über die Eultureutwickeluug Japans in dem vergangenen Decennium endgültig aussallen wird, darf von vornherein behauptet werden, daß es aus Europas Sympathien vollen Anspruch hat. Kein Volk hat die christlich europäische Cultur so frei­willig und verständnißvoll ausgenommen, wie das japanische; sein rühriges Wesen, seine Empfänglichkeit für das Gute und Schöne, sein Streben nach Vervollkommnung muß jedem Wohlthun, der daneben die geistige Stumpfheit, die Selbstgenügsamkeit und den Fremdenhaß der nach Abkunft, Gesittung und Wissenschaft gleichartigen Völker Chinas und Koreas vor Augen hat.

In der öffentlichen Meinung Europas aber scheint jetzt die Reaction eingetreten zu sein. Die volkswirthschastliche Entwickelung des Landes hat, wenigstens so weit der fremde Handel in Betracht kommt, den Erwartungen nicht entsprochen; sein Wohlstand ist vernichtet, sein Vermögen für Unter­nehmungen geopfert worden, die nur dem Ehrgeiz der einen, der Habsucht der andern zu dienen scheinen; die wahren Hülssquellen des Landes werden unerösfnet gelassen, im internationalen Verkehr erhebt die Regierung nur An­sprüche, ohne ihrerseits zu Concessiouen sich bereit zu finden, und im Innern ist die Ordnung fortwährend bedroht; zumal die letzten vier Jahre bilden eine ununterbrochene Kette von Verschwörungen, Bürgerkriegen, Agrarexcesseu, Meuchelmorden und Militäraufständen.

Das Ausland ist ernüchtert; der Bewunderung ist die Enttäuschung gefolgt, an die Stelle des Wohlwollens bittere Kritik getreten, das frühere Urtheil ist in das Gegeutheil umgeschlagen. Ob cs aber recht ist, jetzt das Ganze zu verdammen und Japan alle Befähigung auf Fortentwickelung abzusprechen, ob alle diese Mißstände nicht die natürliche Folge des Regenerationsprocesses sind, der sich jetzt im Volke vollzieht, und ob nicht die Bedingungen des Gelingens dennoch vorhanden sind? Indem ich in Nachfolgendem die Restau­ration und die Ereignisse der letzten zehn Jahre zn schildern versuche und die hauptsächlichen Veränderungen aufführe, welche sich im staatlichen und gesell­schaftlichen Leben vollzogen haben, wird es vielleicht gelingen, ein Gesammt- bild der jetzigen Verhältnisse zu gewinnen und über den Werth der eivilisatorischen Bestrebungen Japans, den Grad seiner Cultursähigkeit und seine Bedeutung für den Völkerverkehr ein Urtheil zu finden.

Nord und Süd. IX, 26 .

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