2. Die Kinder der Klassen 5 und 6
2.1 Der“Ältestenstatus”
Die Zehn- bis Zwölfjährigen sind in der Schulform“Grundschule” die ältesten Schüler. Ihr gesamter sozialer Status wird davon bestimmt. Lehrer, die DDR-Erfahrungen im Umgang mit 5. und 6. Klassen hatten, haben Kinder dieser Klassenstufen nach dem Abschluß der Unterstufe aber als“die Kleinen” kennengelernt und unterrichtet, zumindest in Klasse 5. Nach Klasse 6 hin verschob sich das Bild zwar etwas, und Lehrerinnen und Lehrer erfuhren zum Teil recht drastisch die im Gefolge physischer und psychischer Veränderungen bei den Kindern auftretenden Unterrichtsprobleme. Ihr jetziger neuer Status muß dennoch von beiden Seiten, von Lehrern wie Schülern, erst erkannt und vor allem verarbeitet werden.
Älteste Schüler zu sein, das heißt
e zunächst einmal ohne jegliches eigenes Zutun einen Nimbus zugewiesen zu bekommen, der sich seit Jahrhunderten mit den ältesten Schülergruppen einer Schulform verbindet: erfahrener zu sein als die Kinder jüngerer Schuljahre und eine gewisse Macht über sie zu besitzen;
e einen natürlichen Status anzunehmen und als einzelnes oder gemeinschaftliches Subjekt danach zu handeln. Die demonstrativ auf dem Schulweg oder unmittelbar vor dem Schulgelände gerauchte Zigarette, wo man in jedem Falle von den Jüngeren wahrgenommen wird, ist dabei nur ein winziges Indiz. Andere, viel wichtigere Indizien können Fürsorge und Hilfeleistungen für die jüngeren Schulklassen sein;
e per Wissen und Erfahrungen dichter an den Lehrern“dran” zu sein, um deren Stärken und Schwächen relativ genau zu wissen. Viele Probleme des Unterrichtens auf diesen Klassenstufen hängen damit zusammen, daß die Lehrer die Rolle dieser Kinder, Älteste zu sein, nicht hinreichend annehmen, Schülerinnen und Schüler aber auch vieles tun, was Erwachsene an der Ernsthaftigkeit zweifeln läßt, mit dem die Fünft- und Sechstkläßler ihre Rolle ausfüllen. Hier stößt man sogleich auf weitere Besonderheiten.
2.2 Leben mit vielen Widersprüchen
Die Zehn- bis Zwölfjährigen befinden sich in einer schwierigen körperlichen Entwicklungsphase. Vorpubertät und Pubertät beeinflussen zunehmend-: die Haltung zu sich selbst und zu den Mitmenschen. Hinzu kommt, daß Probleme der sexuellen Entwicklung nicht selten durch entsprechenden Video-Konsum verstärkt werden. Und auch in relativ abgelegenen ländlichen Gebieten treten bereits Einzelfälle kindlicher Prostitution auf.