Teil eines Werkes 
Bd. 1 (1911) J. J. Rousseau
Entstehung
Seite
89
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Rousseaus Herzensgüte.

keines Name ist so beharrlich durch den Koth der Verleumdung gezogen worden als der seinige, der heute noch als befleckt erscheint. War Rousseau im Ganzen gut oder schlecht? Natürlich giebt es keine ganz guten Menschen, aber das Wort im Sinne des gewöhnlichen Lebens verstanden, so darf man ruhig sagen, ja, Rous­seau war ein guter Mensch. Nichts ist unerträglicher als der Pharisäer-Hochmuth, mit dem viele Literaten von demarmen Jean-Jaques und seinen Fehltritten reden, als bedürfte er ihrer Entschuldigung oder Ver­zeihung. Leute, die auf ihrem Wege von der frühesten Kindheit durch sorgfältige Eltern und Erzieher geführt worden sind, die die Strasse der bürgerlichen Ehrbar­keit zwischen den Mauern der Sitten und Gesetze ge­gangen sind, ohne Gutes und ohne Böses zu thun, die wollen über Rousseau aburtheilen? Wohl hat Rous­seau manches gethan, was er besser nicht gethan hätte, aber man bedenke, unter welchen Verhältnissen. Wer wie er mit einer krankhaft reizbaren Natur, von früh an auf sich selbst angewiesen, immer unter ungewöhn­lichen, von der Norm abweichenden Verhältnissen leben musste, wie konnte der ohne Irrthum und Fehlgriffe durchkommen? Am Ende aber ist es wichtiger, Gutes zu thun, als nichts Schlechtes zu thun. Hier die kalte Tugend, die sich nichts zu Schulden kommen lässt, aber auch nichts Ausserordentliches leistet, dort das heisse Herz, mit dem der Mensch der Schuld nicht entgehen kann, das ihn aber doch durch alle Trübungen hindurch zum Guten und Schönen führt. Es ist Thor­heit, den Schriftsteller und den Menschen aus einander

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