Teil eines Werkes 
Bd. 1 (1911) J. J. Rousseau
Entstehung
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Rousseaus Mannesalter.

zu reissen. Ist nicht jede Schrift Rousseaus eine gute That? Ist es überhaupt möglich, dass der, der diese Werke hinterliess, nicht ein guter und edler Mensch war? Es heisst, an ihren Früchten sollt ihr sie er­kennen. Rousseaus Werke aber sind seine Früchte. Zu demselben Ergebnisse führt die Betrachtung von Rousseaus Leben mit unbefangenen Augen. Je älter er wird, um so mehr tritt die Trefflichkeit seines Charak­ters hervor. Inmitten seiner kalten und boshaften Freunde steht er wie ein gutes Kind, das die Freund­lichkeit seines Herzens bei den Anderen wiederzu­finden glaubt und erst nach vielen Enttäuschungen seufzend sich abwendet. Misshandelt und verfolgt, schliesslich paranoiakrank und seiner Meinung nach von grausamen und mächtigen Feinden rings umgeben, bleibt Rousseau mild und liebevoll, auch gegen seine Feinde kennt er keinen Hass, er bedauert sie und keine Schmähung kommt über seine Lippen. Man wird sagen, es giebt eben active Paranoiakranke, die sich an ihren Feinden zu rächen suchen, und passive, die sich mit Jammern und Klagen begnügen. Das ist ja richtig, und der Unterschied bezieht sich auf Unterschiede der Cha­raktere. Aber Rousseau war im Uebrigen keine passive Natur, vielmehr höchst activ und einer glänzenden Pole­mik fähig. Er war ein Kopf-, kein Muskelmensch, kämpfte nicht mit Faust und Schwert, aber seine Feder war eine gefährliche Waffe und er hätte sich ihrer er­folgreich bedienen können, um seine Feinde zu schä­digen. Er wehrte sich auch, aber immer blieb er in der Vertheidigung, nie ging er zum Angriffe über.

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