Teil eines Werkes 
Bd. 1 (1911) J. J. Rousseau
Entstehung
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Die Briefe an Malesherbes.

Ihre Achtung nicht geraubt haben, glaube ich nicht, dass meine Freimuth sie mir rauben könne.

Eine träge Seele, die vor jeder Sorge erschrickt, und ein Temperament, das hitzig, gallig, leicht erreg­bar und im höchsten Grade gegen alle Reize empfind­lich ist, scheinen in demselben Charakter sich nicht vereinigen zu können und doch machen diese beiden Gegensätze im Grunde den meinigen aus. Obwohl ich den Widerspruch im Allgemeinen nicht zu lösen weiss, besteht doch die Vereinigung, ich fühle sie, nichts ist gewisser als sie, und ich kann wenigstens durch An­führung von Thatsachen einen sozusagen geschicht­lichen Nachweis führen, der sie einigermaassen ver­ständlich macht. Ich habe in meiner Jugend mehr Trieb zur Thätigkeit gehabt, aber doch nie so wie ein anderes Kind. Dieser Ueberdruss an Allem führte mich zeitig zu den Büchern. Mit sechs Jahren fiel mir der Plutarch in die Hände, mit acht Jahren wusste ich ihn aus­wendig. Ich hatte alle Romane gelesen und dabei Ströme von Thränen vergossen, ehe ich das Alter er­reichte, in dem das Herz von Romanen bewegt wird. Damals begann sich mein Geschmack auf das Heroische und Romanhafte zu richten. Diese Neigung wuchs mit der Zeit und liess mich schliesslich alles unschmackhaft finden, was nicht meinen Wahngebilden ähnlich war. Als ich jung war, glaubte ich in der Welt dieselben Leute zu finden, die ich in meinen Büchern kennen ge­lernt hatte, und gab mich Jedem ohne Rückhalt hin, dessen Worte mir Eindruck machten. Von jeher liess ich mich durch geschickte Worte leicht bethören. Ich war