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Der Weg meines Lebens : Erinnerungen eines ehemaligen Chassiden / von Josef R. Ehrlich ; mit einem Vorworte von Josef Weilen
Entstehung
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diefer verlockenden Theoſophie des Görlitzer Schu ters zu ver= ſenken.

Ging es gegen elf Uhr, wie verdroſſen blickte er nach dem Stundenzeiger, der ihn, wie es ſchien, von dem geliebten Buche wegzwang in die rohe Wirklichkeit ſeines kummervollen Daſeins. Nur mit Widerwillen ſtand er auf, öffnete nochmals und nochmals das ſchon geſchloſſene Buch, um noch im Fluge einige erbauliche Zeilen zu leſen und übergab es mir endlich mit der inſtändigſten Bitte, es ihm ja für morgen aufzubewahren.

Er ging und oftmals ſah ich ihm aus dem Fenſter nach, wie er in den kalten Wintertagen in leichtem, dünnem Ge wande über den Joſefsplatz dahinhuſchte, um ſich dann in eine der Nebengaſſen zu verlieren. So regelmäßig war ſein Kommen und Gehen durch Wochen und Monate, daß ich mich an ihn, wie an eine nothwendig zu meinem Tagewerke ges hörende Erſcheinung ſchon faſt gewöhnt hatte. Noch hatte ich

kein weiteres Wort mit ihm gewechſelt.

Mittlerweile mochte er wohl erfahren haben, daß ich mit dem Theater in irgend einer Verbindung ſtehe, denn eines Tages trat er ſchüchtern an mein Pult heran und überreichte mir das zierliche Manuſcript eines Drama's, das er verfaßt, und über welches er ſich mein Urtheil erbat.

Es hießHermann, der Cherusker⸗Fürſt. Faſt iſt ſchon jo viel Tinte aus der Feder deutſcher Jünglinge bei der Be­arbeitung dieſes Stoffes gefloſſen, als den Römern im Teuto­burger Walde Hermann Blut erpreßt haben mag. Ich las das Stück. Ein ſeltſames Product. Von geſchichtlichem Kolorit, von einer den Verhältniſſen angepaßten Charakteriſtik, von techniſcher, bühnengemäßer Oekonomie keine Rede, dabei ſprach= lich voll Fehler, im Versmaß und Rhythmus die größte Will­kürlichkeit und dennoch blitzte hin und wieder aus dem chaoti­