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Sonderheft 2, Zur Entstehungs und Wirkungsgeschichte Fontanescher Romane
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kritik, die das Alte, Überlebte, Untergangsreife nicht schlechthin, sondern im Hinblick auf ein wünschbares, wenn auch noch nicht konkret vor- und darstell­bares gesellschaftliches Neues attackiert.

« Das schärfste Minierwerkzeug demokratischer Aufklärung » hatte Thomas Mann Fontanes «skeptische Psychologie» genannt. Die Formel ordnet den Dichter des beginnenden imperialistischen Zeitalters in eine Tradition ein, die begründet wurde durch jene revolutionäre bürgerliche Ideologie, welche die Befreiung der bürgerlichen Klasse aus den Banden feudaler Enge und Be­drückung zugleich als Emanzipation der Menschheit verstand und die aufge­hoben ist in der Verwirklichung des realen Humanismus hier und heute. Die stoffliche Beschränkung auf die preußisch-deutschen Zustände gerade in den besten Werken des Dichters hat nichts zu tun mit provinzieller Enge; im Ge­genteil: die Dialektik von Traditionsbewußtsein und Zukunftserwartung, korrespondierend mit der stets gegenwärtigen Einheit von heimatlichem Schauplatz und ideeller Weltoffenheit, verleiht Fontanes erzählerischem Werk jene neue Klassizität, die zugleich «moderner» ist als der scheinrevo­lutionäre antibürgerliche Avantgardismus vieler jüngerer Autoren.

Am Beispiel vorwiegend der Berliner und der märkischen Verhältnisse in den siebziger, achtziger und neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts hat Fon­tane die Totalität gesellschaftlicher Bezüge und menschlicher Verhaltenswei­sen darzustellen gesucht. Im 29. Kapitel des « Stechlin » läßt der Dichter eine seiner Lieblingsgestalten, die Gräfin Melusine, Worte aussprechen, die wir als seine poetische Konfession, als die Quintessenz seiner Weltanschauung an- sehen: «Ich respektiere das Gegebene. Daneben aber freilich auch das Wer­dende, denn eben dies Werdende wird über kurz oder lang abermals ein Ge­gebenes sein. Alles Alte, soweit es Anspruch darauf hat, sollen wir lieben, aber für das Neue sollen wir recht eigentlich leben. Und vor allem sollen wir . . . den großen Zusammenhang der Dinge nie vergessen. Sich abschließen heißt sich einmauern, und sich einmauern ist Tod. Es kommt darauf an, daß wir ge­rade das beständig gegenwärtig haben. »

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Die Ausgabe der Romane und Erzählungen erscheint - als erste Abteilung einer geplanten umfangreichen Edition gesammelter Werke und ausgewähl­ter Briefe - zu Theodor Fontanes 150. Geburtstag. Die acht Bände enthalten das erzählerische Spätwerk, das « eigentliche » CEuvre des Dichters, und zwar in chronologischer Anordnung, soweit dies möglich ist angesichts der Arbeits­weise des Verfassers, der den ersten Entwurf seiner Romane und Erzählun­gen oft jahrelang liegenließ, bis er an die endgültige Gestaltung und letzte Überarbeitung ging, und der auf diese Weise meist zu gleicher Zeit mit meh­reren Projekten oder Manuskripten beschäftigt war.

Verzichtet haben wir zunächst auf die frühen erzählerischen Versuche - « Ge­schwisterliebe» (1839), «Tuch und Locke» (1853), «Goldene Hochzeit»

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