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Sonderheft 2, Zur Entstehungs und Wirkungsgeschichte Fontanescher Romane
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eine Fontane-Studie enthält. Sie ist ein deutliches Exempel für das völlige Versagen eines preußischen Liberalen vor dem Anliegen eines Kritikers der feudalistisch-bourgeoisen Gesellschaft Preußens. Stern schreibt über den Roman: «Wohin sollen wir kommen, wenn das schlechthin Nichtige, platt Äußerliche, gemein Alltägliche immer breiteren Raum in der Darstellung erlangt, wenn sich die Trivialität der Schnellphotographie auf Schriftsteller von Fontanes Geist und Meisterschaft berufen kann? ... daß es für Fon­tane ein Kinderspiel ist, Paul Lindau nach der einen und Max Kretzer nach der anderen Seite hin zu übertrumpfen, glaubt ihm ohnehin jedermann, und daß hierin eine poetische Aufgabe und ein künstlerisches Ziel läge, wird er selbst nicht glauben. »

Zum Abschluß darf nicht unerwähnt bleiben, daß es auch einer Persönlich­keit wie Franz Mehring nicht erspart blieb, im Falle Fontanes zu irren. In seiner Mai 1891 erschienenen Streitschrift gegen Paul Lindau, «Kapital und Presse», im Schlußkapitel über die Philosophie und Poesie des Kapitalis­mus, erwähnt Mehring auch Fontanes Roman, ausgehend von jener ersten Würdigung des Buches durch Paul Schlenther in der Vossischen Zeitung. Dabei ist Mehring ein Opfer jener Legende vom eingeschworenen Preußen und Konservativen Fontane geworden, zu der auch Schlenther mangels bes­seren Wissens beigesteuert hat. Mehring bezeichnete die Ehe Lenes mit Gideon Franke, in dem er den Typ des Stehkragenproletariers erkannte, als kapitalistische Utopie. Wenn er sich im besonderen auf jenes Gespräch Gideons mit Botho bezog und in dessen Ansichten ein «hohes Lied des Kapitalismus» erblickte, so übersah er dabei völlig die karikaturistischen Elemente, die Fontane dieser Figur beigegeben hatte, und den ironischen Unterton, der bei der Wiedergabe dieses Gesprächs spürbar ist. Daß Fon­tane nichts ferner lag als eine Identifikation mit den Anschauungen Bothos oder Gideons, daß Fontane den Bourgeois verachtete, daß er Lene in einer Szene von tiefem Symbolgehalt als Vertreterin echter menschlicher Werte - « Arbeit und täglich Brot und Ordnung» - auf die Seite der Proletarier rückt, ist Mehring entgangen. Daß Fontanes Feinde auch seine Feinde waren, ist erst unserer Gegenwart verständlich geworden.

Jürgen Jahn