Uristoteles und seine neuentdeckte Schrift von der Staatsverfassung der Athener').
Von
Th. Gomperz.
I.
Das Pharaonenland läßt uns eine neue Renaissance erleben. Literarische und documentarische Schätze, welche die trockene Lust des Nilthales durch Jahrtausende vor dem Untergang bewahrt hat, süllen in immer steigender Menge die europäischen Sammlungen, keine in reicherem Maße als diejenige, welche Wien der Munificenz und dem erleuchteten Eifer eines kaiserlichen Prinzen verdankt. Alle Nationen, welche der Reihe nach Ägypten beherrscht und bewohnt haben, sind in diesen Funden vertreten. Ägypter und Perser, Araber und Kopten, Juden, Griechen und Römer bilden einen vielstimmigen Chorus. Dem Interesse des Abendlandes liegen die hellenischen Denkmäler am nächsten. Und während die unzählbaren öffentlichen und Privaturkunden des Culturhistorikers harren, welcher die vielfarbigen Mosaik-Stifte zu einem Gesammtbilde vereinigen wird, sprechen die Werke der Dichter, der Redner, der Philosophen für sich selbst. Einige hochwichtige derartige Erwerbungen sind in jüngster Zeit englischen Privatsammlern gleichwie der Verwaltung des britischen Museums gelungen. Weitaus die erste Stelle gebührt hierin der wahrhaft wunderbar zu nennenden Wiedergewinnung der Aristotelischen Schrift „Von der Staatsverfassung der Athener".
Der Verlust dieses Buches, welches an der Spitze des mehr als hundertund- sünfzig derartige Darstellungen umfassenden, die Grundlage der „Politik" bildenden Sammelwerkes stand, ist längst mit manch' einem gelehrten Msu! beklagt worden. Nun ist es in vier Papyrusrollen, die auf der Rückseite die Wirthschaftsrechnungen eines Landgutes aus dem elften Regierungsjahre des Kaisers Vespasian (dem Jahre 78—79 unserer Zeitrechnung) enthalten, in einem Zustande von fast fabel-
*) Auf Grund eines Vortrages, gehalten in der „Juristischen Gesellschaft" zu Wien den 28. Februar 1891.