Heft 
(1891) 67
Seite
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Deutsche Rundschau.

Haft guter Erhaltung wieder zu Tage getreten. Nur der die Königszeit um­fassende Anfang fehlt und fehlte bereits in der Vorlage unserer Handschrift. Der Schluß, welcher in erstaunlicher Ausführlichkeit das Gerichtsverfahren be­handelt, ist leider durch zahlreiche Lücken entstellt. Die von Herrn Kenyon, einem Assistenten des britischen Museums, veranstaltete und mit einem Commentar versehene Ausgabe ist eine höchst achtbare Leistung und erfüllt alle billigen An­forderungen, die an eine derartige Läitio xrlneexs gestellt werden können. So ist denn Aristoteles auferstanden. Er steht vor uns, er hat den durchdringenden Blick seiner kleinen Augen auf die Zuhörer gerichtet und erzählt ihnen von des athenischen Staates Ursprung, Entwicklung und Niedergang. Wie thut er dies? Welche ist die Form seiner Darstellung, welcher der Geist seiner Forschung? Der Beantwortung dieser Fragen sei der erste Theil unserer Betrachtung gewidmet.

Was uns zunächst aus das Wohlthuendste berührt, das ist der Ton edler, vornehmer Schlichtheit. Wir lauschen der Stimme eines Mannes, der ganz und gar in seinen Gegenstand versenkt ist und von der ihm selbst zum Vedürfniß gewordenen Klarheit und Prägnanz der Darstellung abgesehen aus die Leser nur so weit Rücksicht nimmt, daß er sich ängstlich bemüht zeigt, ihnen jeden Stein und jedes Steinchen des Anstoßes aus dem Wege zu räumen. Mit den schriftstellerischen Kunstmitteln seiner Zeit ist der Verfasser derRhetorik" selbst­verständlich aufs Genaueste vertraut, allein er macht von ihnen den maßvollsten Gebrauch. Seine Darstellung ist elegant, ohne jemals einen Anflug von Ziererei oder prätentiöser Gespreiztheit zu zeigen. Nur selten entschlüpft ihm eine epigrammatisch zugespitzte Wendung wie jenesAls das Volk den Stimmstein in der Hand hatte, hatte es auch die Staatsleitung in der Hand". Charakteristisch ist die augenscheinliche Bevorzugung, welche er Herodot im Gegensätze zu Thukydides angedeihen läßt. Man hätte das Gegentheil vermuthen können. Man hätte eher eine Vorliebe des Geschichtschreibers unter den Philosophen für den Philo­sophen unter den Geschichtschreibern erwartet. Allein die gleichnamigen Pole scheinen sich auch diesmal abgestoßeu zu haben. Die allzu gedankenschwere, übermäßig gedrängte und aufs Aeußerste zugespitzte Sprache des Thukydides ist dem Aristoteles offenbar nicht als das geeignete Vehikel geschichtlicher Dar­stellung erschienen. Thukydides wird von ihm hier so wenig wie in den übrigen Werken genannt und erfährt einmal in Betreff eines geschichtlichen Details eine indirecte, aber nicht der Schärfe entbehrende Zurückweisung. Er zieht die treuherzige Erzählungsweise desVaters der Geschichte" vor, welchen er an einer Stelle an- sührt und dem er nach antiker Weise auch dort folgt, wo er ihn nicht aus­drücklich nennt. Gelegentlich werden Jrrthümer desselben berichtigt und politische Beweggründe dort namhaft gemacht, wo dieser nur novellistische Motive gesehen hatte. Auch sonst macht er von seinen mühevollen Vorarbeiten nicht viel Auf­hebens; er stellt die Thatsachen stillschweigend richtig; er kränkt keinen Zeit­genossen, er verunglimpft keinen Vorgänger.

Ganz dieselben Charaktereigenschaften weist auch seine Forschung auf. Er ist Quellensorscher in eben demselben Sinne wie irgend ein exacter Historiker der Gegenwart. Das Steinarchiv Athens hat er eifrig ausgenützt. Volks- Leschlüsse werden, sobald ihm die Sache wichtig genug scheint, in vollem Wortlaut