Heft 
(1891) 67
Seite
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Aristoteles und seine neuentdeckte Schrift von der Staatsversassung der Athener. 221

mitgetheilt. Wo das Material ihn im Stiche läßt, deutet er dies vornehmlich an, wie er denn bei der Darstellung der ältesten oligarchischen Versassungsform gewiß nicht ohne Absicht nur von einemUmriß" oder einerSkizze" spricht. Wo Urkunden und mündliche Ueberlieferung nicht ausreichen, kommen scharf­sinnige Rückschlüsse ins Spiel. In dieser Weise werden die zu seiner Zeit gelten­den Einrichtungen mehrfach zur Aufhellung dunkler Punkte der fernen Vergangen­heit verwendet. Selbstverständlich wächst die Autorität der Angaben mit dem historischen Charakter der Zeit, auf welche sie sich beziehen. Seine Speculationen über die Urzeit, über die Zeit eines Theseus und Jon können wir auf sich beruhen lassen. Er verschmäht kein Mittel der Belehrung. Sprichwörtliche Redensarten, Weihepigramme, Trinklieder werden mitgetheilt und verwerthet. In dieser Weise erfahren wir von einem bisher völlig unbekannten erfolglosen Versuch, die Herrschaft der Pisistratiden zu stürzen. Das Andenken des Braven lebte nur in einem Verslein fort, das malcontente Unterthanen jener Fürsten bei ihren Gastmahlen zu singen pflegten, und das in freier Wiedergabe also lautet:

Ein wackrer Mann ist stets ein tapfrer Zecher;

Drum, lieber Mundschenk, fülle Kedon's Becher.

Aber nicht nur als Mittel der geschichtlichen Aufhellung, auch an sich besitzt das Anekdotenhafte, das bunte, farbige Detail für unseren Philosophen beträcht­liche Anziehungskraft. Es ist, als erholte er sich in diesem Erddust von der dünnen Lust metaphysischer Abstractionen. So werden die Vorgänge, welche die Beseitigung des Areopags als eines politischen Factors herbeisührten, und bei Welchen der geriebene Schlaukopf Themistokles, wie wir nunmehr sehen, eine Wahre Odysseus-Rolle spielte, mit ausfälliger Breite und augenscheinlich nicht ohne humoristisches Behagen erzählt. Auch von jener Pseudo-Athens, die den vertriebenen Pisistratus wieder nach Athen zurückführte, weiß Aristoteles Genaueres zu berichten als andere Schriftsteller. Es war nach einer Version, für deren Wahr­heit der sonst nicht nachweisbare Eigenname Phye zu sprechen scheint, ein thrakisches Blumenmädchen, das damals im Prachtgewand und vollen Waffenschmuck der Göttin an Pisistratus' Seite auf seinem Gefährte stand, und vor dem das aber­gläubische Volk in die Knie sank. Diese blauäugige und blondhaarige Schönheit möchten wir den Verfassern historischer Romane empfehlen, damit sie neben Bulwer's Nydia und der Lyciska desFechters von Ravenna" den ihr gebühren­den Platz in der schönen Literatur einnehme. Diese Freude an malerischen Einzelheiten erinnert uns an eine briefliche Aeußerung des Stagiriten, die augen­scheinlich aus seinen letzten Lebensjahren stammt, aus eben den Jahren, in welche die Abfassung unseres nach 329 veröffentlichten Buches fällt. Er schreibt an seinen Freund Antipater, den Reichsverweser Alexander's:Je weltfremder und einsiedlerischer ich werde, desto mehr Gefallen finde ich an Geschichten."

Kein Detail ist so niedrig und geringfügig, daß der Geist des Alles umfassenden Encyklopädisten es unter seiner Würde hielte, sich mit ihm zu befassen. Sogar die den Straßenkehrern ertheilte Weisung, Abfallsstoffe außer­halb der Stadtmauern, und zwar in gemessener Entfernung von diesen, ab­zulagern, findet Erwähnung; desgleichen einzelne Bestimmungen der städtischen Bauordnung, so das Verbot, die Straßen durch Vorbauten zu verengern oder