Aristoteles und feine neuentdeckte Schrift von der Staatsverfasfung der Athener. 235
die entschiedene Parteinahme des großen Realisten sür Theramenes, den proteus- artigen Gegner der Volksherrschaft, den der Volkswitz „Kothornos" zubenannte, nach einer Fußbekleidung, die gleich gut auf beide Füße paßte, und von dem die Komiker scherzten, daß er, so oft er auch stürze, immer weich gebettet sei oder, wie wir sagen würden, stets auf die Butterfeite falle. Er vertheidigt ihn in ganz ähnlicher Weise, wie Tallehrand in seinen Memoiren sich selbst vertheidigt. Es stehe mit ihm nicht so, wie die Oberflächlichkeit behauptet. Er habe nicht alle Regierungen der Reihe nach gestürzt, sondern sich vielmehr bemüht, dem Vaterland unter allen Regierungsformen zu dienen, was die Sache eines guten Bürgers sei; nur den Ausschreitungen einer jeden sei er mannhaft entgegengetreten, und sobald sie entartet War, sei er ihr feind geworden.
Daß Kritias und Alkibiades von dem Verfasser der athenischen Verfassungsgeschichte niemals genannt werden, darf uns füglich Wunder nehmen. Er will (so scheint es) die zwei genialen Männer, die er anderswo neben Heroen der Vorzeit nennt, nicht tadeln, und er kann ihre verderbliche politische Wirksamkeit nicht loben. Auch mag bei Kritias eine persönliche Rücksicht auf den Großonkel seines verehrten Meisters Plato und bei beiden eine solche auf die Ueberlieferungen der sokratischen Schule mit im Spiele sein. Waren doch kaum zwei Jahrzehnte verflossen, seitdem der Redner Aeschines den Athenern zugerufen hatte: „Ihr habt Sokrates, den Sophisten, getödtet, weil er den Kritias erzogen hat."
Doch wir müssen schließen. Ein Jahrzehnt wird nicht ausreichen, um aus dem neuentdeckten Erzgang den vollen in ihm geborgenen Gewinn zu ziehen. Von aller Bereicherung und Berichtigung unseres Wissens abgesehen, wird der Alterthumswissenschaft noch eine zwiefache Förderung zu Theil. Es tönt ihr aus diesen vergilbten Blättern zugleich ein ermunternder Zuruf entgegen und eine Mahnung zur Bescheidenheit. Neuen Muth wag sie aus der Wahrnehmung schöpfen, daß es der ausdauernden Forschung gelungen war, aus versprengten und oft zerrütteten Notizen so viele Einsichten zu gewinnen, welche nunmehr ihre volle Bestätigung gefunden haben. Zur Bescheidung aber mahnt die Richtigstellung zahlreicher Jrrthümer, die bislang unter uns keine Anfechtung erfahren hatten. Kein Forscher ist so hoch gefürstet, daß seine Fehlbarkeit nicht gar oft in greller Weise zu Tage träte. Gar manch ein zuversichtlich ausgesprochenes „dies ist unwahrscheinlich", „jenes ist unmöglich" oder „undenkbar" wird hier von der Wucht eines keinen Widerspruch duldenden Zeugnisses zermalmt.
Vor Allem aber ist es die Persönlichkeit des Stagiriten, die uns hier, wie nie zuvor, menschlich nahe tritt. Längst freilich ist er uns nicht mehr der Ueber- mensch, der „maestro 61 eolor ein; sanno", welchem Dante im Vorraum seiner Hölle begegnet war. Seitdem sind sechs Jahrhunderte ins Land gegangen. Aus der Vorhölle des Dichters ist der Philosoph in das Fegefeuer der Kritik gerathen. Manch' ein Blatt ward aus seinem Ruhmeskranz gepflückt. Seine schlechte Physik, seine durch unzeitiges Einmengen des Zweckbegriffes verdorbene Physiologie, seine mit uralterthümlich-fetischistischen Elementen (den Sterngöttern) versetzte Theologie, seine maßlose Ueberschätzung der eigenen Nation und die darauf gegründete Rechtfertigung der Sklaverei — sie finden keinen Fürsprecher mehr. Auch legen die einsichtsvollsten Aristoteliker der Gegenwart den Hauptton nicht