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Deutsche Rundschau.
sinn und dem staatsmännischen Weitblick des Demos dort ertheilt, wo er sein Verhalten nach dem Abschlüsse des Bürgerkrieges preist. Nicht nur die Amnestie sei mit unverbrüchlicher Treue ausgeführt, das Angeberthum mit rücksichtsloser Strenge niedergehalten worden; das Volk sei auch über die beim Friedensschluß ihm auserlegten Verpflichtungen weit hinausgegangen, indem es sogar die Schuld, welche die besiegte oligarchische Faction beim spartanischen Staat ausgenommen hatte, aus sich nahm, sie schleunig abzahlte und dadurch — so können wir hinzufügen — den Bann der Abhängigkeit brach, welcher sonst die Oligarchen an das Ausland gefesselt und gehindert hätte, gute Patrioten zu werden.
Diese Anerkennung ehrt das Volk, das sie empfängt, vielleicht nicht mehr als den Mann, der sie ihm spendet. Denn nur der lauterste Wahrheitssinn hat sie ihm abgerungen. Seine Herzensneigung gehört aristokratischen Staatsmännern und Regierungssormen. Und wie sollte sie nicht? Der Philosoph von Stagira war auch in politischen Dingen ein durch und durch unabhängiger, von keinem Hauch des Servilismus berührter Denker. Aber er war überdies ein vornehmer Weltmann. Um seine Wiege hatte Hoslust geweht. Sein Vater stand als Leibarzt und vertrauter Rathgeber einem König nahe. Er selbst war Prinzenerzieher, der Gemahl einer fürstlichen Frau, der Pflege- und präsumptive Schwiegervater eines der hychststehenden Officiere Alexanders. Wie innig die Freundschaft war, die ihn mit dem Reichsverweser Antipater verband, dies lehren einige uns erhaltene Aeußerungen desselben, die Trümmer der Correspondenz und das Testament des Aristoteles, welches Antipater mit weitgehender discretionärer Gewalt zu vollstrecken hatte. Was Wunder, daß die Mitglieder der socialen Schicht, zu der er selbst gehörte, seiner Neigung und seinem Verständniß ungleich näher standen als die Männer des Schurzfells und des Arbeitskittels. Unter den „anständigen Leuten" versteht er vorzugsweise, wenn auch nicht ausschließlich, die Angehörigen unserer sogenannten „besseren Classen". Man wird in Hinkunft hoffentlich nicht mehr darüber streiten, ob dieser Ausdruck in der „Politik" die „Tugendhaften" oder die „Gebildeten" bezeichne. So schießt aus dem neuen Buche manch ein Strahl sonnigwarmen Lebens auch aus die Schemen des systematischen Werkes. Er hat feine Umgangsformen und „gute Abkunft" wahrscheinlich höher geschätzt, als sie es verdienen. Auch verzeiht er einem persönlich ehrenwerthen Edelmann, wie Nikias es war, manchen verhängnißvollen Mißgriff, den er einem grobkörnigen Kleon kaum vergeben hätte. Andere mögen ihm darum gram sein; uns macht die menschliche Schwäche den Geistesriesen nur um so liebenswerther, während der Sieg, den er gelegentlich über sie davonträgt, unsere Verehrung steigert. Seiner Abneigung gegen die Demokratie entspricht die knappe Kürze, die kühle Zurückhaltung, mit welcher der Hauptförderer derselben, Perikles, besprochen wird. Die auffallende Ausführlichkeit, mit welcher die Bewegung des Jahres 411 dargestellt und die damaligen auf die Eindämmung der Volksmacht gerichteten, niemals zur Verwirklichung gelangten Verfassungsentwürfe erörtert Werden, gestattet eine ähnliche Erklärung. Sind doch derartige Pläne ohne Zweifel eben in der Umgebung des Aristoteles vielfach ventilirt, und ist ihre Ausführung bald nach seinem Tode von Antipater versucht worden, der hierin der Vollstrecker auch seines politischen Testamentes war. Am überraschendsten wirkt