Aristoteles und seine ueuentdeckte Schrift von der Staatsverfassung der Athener. 233
Platää mit einem Schlage das allgemeine passive Wahlrecht eingeführt haben sollte, erweist sich als ein Trugbild. Der „gerechte" Volkssreund kann, wenn anders jener Bericht ein Körnchen Wahrheit enthält, den Zugang zn den höchsten Staatsämtern den Mitgliedern der zweiten Schatzungsclasse eröffnet haben. Die der dritten sind jedenfalls erst zwanzig Jahre später zum Archontat zugelassen worden. Den „Theten" oder Proletariern aber scheint der Zutritt zu jenen Aemtern gar niemals ausdrücklich gewährt worden zu sein. Die einschlägigen Gesetzesbestimmungen wurden vielmehr nur durch stillschweigende Nichtbeachtung außer Kraft gesetzt. Aehnliches geschah auch auf anderen Gebieten. Wir beginnen die Berechtigung jenes beißenden Ausspruchs zu begreifen, der eben unserem Philosophen in den Mund gelegt wird: „Die Athener haben zwei gar schöne Dinge erfunden, den Weizenbau und treffliche Gesetze; der Unterschied ist nur dieser: von dem Weizen machen sie Gebrauch, nicht aber von den Gesetzen".
IV.
Allein nicht nur der Abfall von der zähen Gesetzestreue der Altvorderen ist es, den Aristoteles an seinen athenischen Zeitgenossen tadelt. Er ist der Massenherrschaft überhaupt nicht hold. Den in den erlesensten Gesellschaftskreisen Heimischen stößt der heftige Ton und die polternde Manier zurück, welche Gevatter Gerber und Lampenmacher (ein Kleon und ein Hhperbolos) auf der Rednerbühne eingebürgert hatten. Zu tieferem Widerspruch reizt ihn die kurzsichtige Politik, welche das Gedeihen der Zukunft dem Vortheil des Augenblickes opfert. Dies ist ganz eigentlich der Punkt, an welchem er mit den Demagogen handgemein wird. Eine übermäßige Belastung und Ausbeutung der Reichen zu Gunsten der Armen hingegen wirft er ihnen weder hier noch anderwärts vor. Er mißbilligt allerdings das Theater- oder Schaugeld, welches übrigens nicht schon (wie bisher allgemein angenommen ward) von Perikles, sondern erst von dem Lyra-Verfertiger Kleophon gegen die Neige des fünften Jahrhunderts, und auch da nicht dauernd, eingesührt wurde. Aber er thut dies, nicht weil diese Spenden den Armen zu viel, sondern weil sie ihnen zu wenig bieten. Hierin ist er ganz und gar eines Sinnes mit Demosthenes. Wie der Redner das Schaugeld eine schwächliche Krankenkost nennt, zu viel zum Sterben, zu wenig zum Leben, so vergleicht der Verfasser der „Politik" dasselbe, weil es die Begehrlichkeit stets wecke und niemals befriedige, mit dem durchlöcherten Danaidenfaß. Beide wollen, daß den Dürftigen dauernder und ausreichender Beistand gewährt werde, und Aristoteles fügt bedeutsam genug hinzu, daß dies im Interesse auch der Wohlhabenden gelegen sei. Auch ist es tatsächlich nicht wahr, daß die Besteuerung zu Athen eine übermäßige, den Sparsinn und den Erwerbstrieb lähmende Höhe erreicht hat. Bei aller Unzufriedenheit mit der Herrschaft der Demagogen erkennt der Stagirit den unverwüstlich guten Kern des edelgearteten Volkes an, welches sich zwar oft genug täuschen und verführen lasse, bald aber aus seinem Taumel erwache und seine Verführer zu strafen wisse. In warmherzigen, wahrhaft goldenen Worten, welche die Pulse eines Grote und eines Niebuhr hätten höher pochen machen, rühmt der Persönliche Freund macedonischer Gewalthaber die „gewohnte Milde" des athenischen Volkes. Und geradezu überschwänglich klingt das Lob, welches er dem Hoch-