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Deutsche Rundschau.
Derartige Uebelstände haben, wie unser Gewährsmann erwähnt, die Bezirkswahl mehr und mehr zurückgedrängt und die Bedeutung der Demen, unter welchen es ja auch „faule Burgflecken" wie jenes nur dreißig Wähler umfassende Myrrhinus gab, zu Gunsten der Hauptstadt abgeschwächt.
Zu den von Kleisthenes geschaffenen Institutionen gehört das vielberusene Scherbengericht, der Ostracismus. Die Zeit ist vorüber, in welcher Declamationen über die Undankbarkeit des athenischen Volkes im Schwange waren, die ihre Nahrung vornehmlich aus dem Zerrbild zogen, welches das spätere Alterthum eben von dieser Einrichtung entworfen hat. Ihr Wesen ist hauptsächlich von Grote klargelegt worden. Es war ein Sicherheitsventil, welches den hochgespannten Dämpfen der Parteileidenschast einen Ausweg eröffnete; der Nothbehelf eines Zeitalters, in welchem die Staatsmacht noch nicht auf hinreichend festen Grundlagen ruhte, um der gelegentlichen Anwendung einer Ausnahmsmaßregel entrathen zu können, die man sehr treffend mit der Ausweisung monarchischer Prätendenten verglichen hat. Nur ein greller Fall widersprach dem glaubhaften Gesammt- bild, welches wir endlich von dieser Institution gewonnen haben: die angebliche, von Plutarch berichtete Ostracisirung des gelehrten Musikers Dämon, eines Zeitgenossen und Freundes des Perikles. Aber freilich, „mir soll Alles recht sein, wenn man Plutarch nur nicht für einen Geschichtschreiber ausgibt". Dieses Wort Wilhelm v. Humboldt's, an welches man bei dem Vergleich der aristotelischen mit den plutarchischen Angaben so häufig gemahnt wird, man thut Wohl daran, seiner auch hier nicht zu vergessen. Der Stagirit erwähnt jenen Vorfall nicht; das würde an sich nicht viel beweisen. Wohl aber erzählt er uns, daß ein anderer Freund des Perikles, der ein wirklicher, thätiger Politiker war, ein Gaugenosse des Dämon und ein Namensverwandter desselben, vom Ostracismus betroffen wurde. Dämon, der Sohn des Damonides aus dem Demos Oie, und Damonides (Sohn des Dämon?), gleichfalls aus dem Demos Oie, — wie sollte der liebenswürdige und vielbelesene Moralist von Chäronea, dem nur alles Andere Wichtiger war, als die scharfe, objective Auffassung des Tatsächlichen, den sich darbietenden Anlaß nicht benutzt und die Bedein nicht mit einander verwechselt haben? Man kennt auch die Erzählung von der Nemesis, welche angeblich den Kleisthenes ereilt hat. Er soll sich in seiner eigenen Schlinge gefangen haben und das erste Opfer des Scherbengerichtes geworden sein. Dies klang so schön, so erbaulich, wie dazu geschaffen, das alte Wort von jenem, der Anderen eine Grube gräbt, aufs Beste zu beleuchten. Wie schade, daß von dem „tabula äoeet" nichts übrig bleibt als eben die Fabel, als welche das Geschichtchen Aelian's sich jetzt entpuppt hat!
Kleisthenes war der Begründer der athenischen Demokratie. Er hat allerdings nicht sowohl den Kreis der Volksrechte erweitert, als vielmehr die Masse des Volkes selbst vergrößert, das an jenen Rechten theilnahm. Auf der von ihm erschlossenen Bahn ist der Demos fortgeschritten, aber weit langsameren, weit be- sonneren, weit gemesseneren Schrittes, als man bislang zu glauben pflegte. Wieder war es Plutarch, der auch hier die Geschichte zwar keineswegs absichtlich entstellt, aber durch Sorglosigkeit und Streben nach Effect aufs Gründlichste geschädigt hat. Jener Theaterstreich des Aristides, der nach den Siegen von Salamis und