Heft 
(1891) 67
Seite
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Aristoteles und seine neuentdeckte Schrift von der Staatsverfassung der Athener. 231

und Beleuchtung gefunden. Längst wußte Jeder, der es wissen wollte, daß den Dernen noch andere und höhere gesammtstaatliche Aufgaben oblagen, als die bloße Führung der Civilstandsregister und die Controle der Bürgerrollen. Sie erwählten die Gesetzgebungscommissionen, eine Thatsache, welche in einem Volksbeschluß (dem bei einem Redner erhaltenen sogenannten Decret des Tisame- nos) unzweideutig bekundet wird. Wenn die Alterthumssorschung dies übersehen und verkannt hat, so war ihr Sinn vielleicht nicht immer elastisch genug, um sich dem geschmeidigen Geist der Athener anzupasfen, der verschiedenen Zwecken die verschiedenartigsten Mittel dienstbar zu machen verstanden hat. Wahlen aus der Gesammtbevölkerung, Wahlen in den Phhlen, Wahlen in den Demen, ein Gemenge von Wahl und Erloosung, endlich die reine Erloosung statt der Wahl dort, wo die Verantwortlichkeit keine concentrirte und keine Fachbildung erforder­lich war, wo vielmehr Alles darauf ankam, die Massen am Staatsleben energisch zu betheiligen, sie mit Selbstgefühl und Staatsgesinnung zu durchtränken und die Härten einer einseitigen Majoritätsherrschast zu mildern dies Alles hat im attischen Staatswesen nicht nur nach einander, sondern auch großenteils neben einander bestanden und ein harmonisches Gesammtergebniß geliefert. Die Demen als Wahlkörper der Gesetzgebungscommissionen aber passen aufs Allerbeste in den Rahmen jener zahlreichen Anstalten, die dazu dienten, den Act der Gesetz­gebung mit allen erdenklichen^ jede Ueberstürzung und jede parteiische Einseitig­keit verhütenden Vorkehrungen zu umgeben, und die nur in den auf Versassungs- revision bezüglichen Bestimmungen der nordamerikanischen Einzelstaaten ihres Gleichen finden. Die Demenwahl war das, was wir heutzutage alsserutür ä'arroucliLZemeirt" im Gegensatz zumserutin äe liste" bezeichnen. Das Listen- scrutinium macht die Minderheit mundtodt. Man denke sich einen extremen Fall: die sämmtlichen Abgeordneten eines ganzen Landes werden mittelst einer Liste er­wählt; hier kann es geschehen, daß die eine der zwei um die Herrschaft ringenden Parteien die Hälfte der Bürger in sich begreift und dennoch ganz und gar unver- treten bleibt. Dieser äußerste Fall konnte in einem antiken Freistaat noch über­boten werden. Denn die eine der beiden Parteien mochte aus dem Marktplatze der Hauptstadt zufällig in stärkerer Zahl erscheinen als die andere; und da die besitzlosen, beweglicheren und radicaler gesinnten Bevölkerungselemente allezeit die Tendenz besitzen, in den großen Städten zusammenzuströmen, so begreift man leicht, von welcher Art die Gefahr war, der es vorzubeugen galt. So erfahren wir denn nunmehr, nicht ohne freudige Ueberraschung, daß jener Schutz der Minderheit und, wie wir hinzusügen dürfen, vorzugsweise der staatserhaltenden Minderheit ein weit ausgedehnterer war, als man bisher ahnen konnte. Die Archonten wurden bald nach der Reform des Kleisthenes aus Candidaten erlöst, welche die Demen nominirt hatten. Und daß die Demen in jener Epoche die Wahlkörper auch für zahlreiche andere Beamten gebildet haben, dies versichert uns Aristoteles ausdrücklich; die alte Gepflogenheit klingt in dem nie er­loschenen Brauche nach, mindestens die Rathsherren in den Gauen zu erloosen. Freilich kommt anläßlich der letzteren Meldung auch die Kehrseite der Einrichtung zum Vorschein, die übergroße Stärke localer Einflüsse nämlich, vor Allem die größere Leichtigkeit, mit welcher in kleinen Wahlbezirken Bestechung geübt wird.