Literarische Notizen.
319
Die ergreifende Erzählung berichtet die Geschichte eines Mädchens, das, um Mittel zur Pflege ihrer kranken Mutter, einer Wäscherin, zu erhalten, sich unter die kleinen Tänzerinnen des Ballets einreiht. Als sie reifer wird, der Confirmationsunterricht ihr Nachdenken weckt und eine erste Liebe ihre Gefühlswelt aufregt, empfindet sie ihre Schaustellung immer peinlicher als Schmach. Durch eine Reihe von unglücklichen Verwicklungen kommt sie bei ihren Lehrern und dem Pfarrer, der sie consirmirt, in den Verdacht, ihre jungfräuliche Ehre eingebüßt zu haben, und da sie die Vorwürfe auf ihr Handwerk als Tänzerin bezieht, gesteht sie durch Schweigen etwas zu, dessen sie nicht schuldig ist. Da man ihr gesagt hat, falls sie in ihrem Berufe verunglücke, erhalte ihre Mutter eine Pension, führt sie selbst ein solches Unglück herbei und stirbt, nachdem der Jrrthum aufgeklärt ist und der Pfarrer an der Sterbenden die Confir- mation auf dem Todtbette vollzogen hat. Der Verfasser versteht unseren Antheil im Innersten zu erregen und erreicht diesen Erfolg durch die Weise seiner Erzählung, die, ruhig und langsam fortschreitend, nichts im Dunkel läßt, so daß wir uothwendig von den erzählten Vorgängen tief ergriffen werden, weil er uns Zeit läßt, daß seine Bilder Wurzel in uns schlagen. Diese Gaben, die vor Allem den guten Erzähler ausmachen, besitztSchmitthenner in hohem Grade. Der Ernst der Erzählung beruht auf dem Pastoralen Interesse, das der Verfasser, der selbst Prediger ist, an dem Geschicke des unglücklichen Kindes nimmt, dessen Geschichte er erzählt; stellenweise aber kehrt er auch den modernen Realisten heraus, der diese beste Welt in ihrer ganzen Entsetzlichkeit uns vorführen will. Das Leben ist Heuer gewiß nicht lustig, weder für Alte noch Junge; aber auch das ärmste Kind findet Blumen an seinem Wege, Lichter an feinem Himmel, und von diesen hätte das Buch mehr reden dürfen. Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst. Der Dichter muß uns so hoch über den Jammer stellen, den er schildert, daß wir nicht in demselben untergehen. Eine poetische Kraft, wie die seine, wird diese wahrhaft künstlerische Höhe sicher noch gewinnen, aus der die poetische Verklärung des Schmerzes den Leser zugleich erhebt und befreit. Es ist jetzt Sitte geworden, den Sekt möglichst sauer zu machen, die Landschaften bei Regenwetter zu malen und Balletratten als zerknirschte Büßerinnen aufzufassen. Vor einem solchen Realismus, der uns bedrückt, statt unsere Seele zu befreien, möchten wir warnen. Das Buch aber darf mit gutem Gewissen als eine ganz hervorragende Leistung bezeichnet werden. Schmitthenner besitzt die Gabe des rechten Dichters, Gestalten zu schaffen. Er hat eine Kraft der Phantasie, daß alle seine Figuren, die Wäscherin, der beschäftigte Pfarrer, die leichtsinnigeCollegin völlig anschaulich herausgekommen sind, und wer das Buch gelesen hat, wird es nicht vergessen. Darum wünschen wir nur so mehr, daß seine Muse ihm bald freundlichere Bilder vorgaukeln möge, deren die Gegenwart, gerade weil sie so schwer ist, doppelt bedarf.
Bilder ans Japan. Schilderungen des japanesischen Volkslebens von vr. Hugo Kleist. Leipzig, Wilhelm Friedrich.
Wenn einst das Kaiserreich Japan seinen Platz unter den Culturstaaten der Welt eingenommen haben wird, was, wenn es in gleichem Tempo wie bisher auf der befchrittenen Bahn fortfährt, in nicht allzu ferner Zeit der Fall sein kann, dann dürfen wir Deutsche uns einen beträchtlichen Antheil an dieser erfreulichen Entwicklung zuschreiben. Offiziere, Lehrer, Beamte und Aerzte holt sich dieses höchst begabte Volk aus unserem Vaterlande, während es andererseits seine Jugend auf deutsche Hochschulen schickt, seine Staatsdrener unsere Einrichtungen studieren läßt, ja selbst sein Parlament nach dem Muster unseres Reichstages ins Leben gerufen hat. Kein Wunder, daß unsere Tagesliteratur reich ist an Schilderungen aus Japan, zu deren besten das vorliegende Werk gezählt werden darf. Aus eingehenden Studien hervorgegangen, läßt es uns in anziehender Reihenfolge den Japaner zu Haufe, im öffentlichen Leben, und im Umgang mit Ausländern kennen lernen, ebenso aber auch das in Japan vertretene Deutschthum an der Arbeit sehen, wie es mit dem Eingeborenen um die Wette ringt, das Reich aus die Stufe europäischer Cultur zu erheben. Daß nicht überall im japanischen Volke dieser Drang nach europäischer Gesittung und europäischen Einrichtungen vorhanden ist, lehrt uns das Buch freilich auch, und wir ersehen aus ihm, daß hier wie allenthalben der Weg zu einer höheren Gesittung kein dornenloser ist. — Dem Buche voran sind die, wie wenigstens der nach eigener Anschauung ur- theilende Verfasser versichert, wohlgelungenen Abbildungen des japanischen Kaiserpaars gestellt, das mitedlem Eiferund Beispiel derReform- bewegung vorangeht. Dreißig Abbildungen nach Originalphotographien begleiten den Text und die zum Schluffe mitgetheilte, wörtlich übersetzte und bisher noch nirgends veröffentlichte Novelle charakterisirt geschickt die früheren Zustände in Japan. Obwohl ihr Inhalt an sich mager ist, wird sie gerade wegen ihres kulturhistorischen Interesses dennoch gern gelesen werden, ff-/. Laura Bridginan. Erziehung einer Taubstumm-Blinden. Eine psychologische Studie von Wilhelm Jerusalem. Wien, Pichler's Wwe. u. Sohn. 1890.
Daß ein taubstummes, blindes Mädchen durch geschickte Entwicklung ihres Tastsinns zur Menschlichkeit herangebildet wird; daß sie nützlich arbeiten lernt, in der Fingersprache lebhaft konversirt, erhabene Lettern rasch liest, hübsche Briefe schreibt, fertig rechnet, von Geographie und Geschichte etwas erfährt: daß sie Freundschaft genießt, zu Gott betet und sich ihres Daseins mit Bewußtsein freut, ist gewiß nicht bloß dem Philanthropen interessant, sondern höchst wichtig für die Psychologie. Der experimentelle Beweis ist dafür geliefert, daß der Tastsinn allein genügt, um eine ganze Raumwelt aufzubauen. Natürlich hat die Seelenforschung den Fall längst benutzt; aber mit solcher Vollständigkeit des Materials ist er nie verarbeitet worden wie in vorliegender Schrift. Der Verfasser weiß als wohlgeschulter Fachmann die wichtigen Thatsachen erläuternd ans Licht zu stellen. Die Schreibart ist fließend und leichtverständlich; auch manchen Nichtphilosophen dürfte das kleine Buch fesseln.