Heft 
(1891) 67
Seite
447
Einzelbild herunterladen

Die Berliner Theater.

Berlin, 5. Mai 1891.

Unter denselben Zeichen und in der gleichen Windrichtung wie die erste ist die zweite Halste der Theaterspielzeit verlausen. Eine Fülle von Neuigkeiten und neuen Einrichtungen hat das Publicum unterhalten, aber nichts von alledem hat sich über das Mittelmaß erhoben. Stärker als seit längerer Zeit ist das schauspielerische Element einmal wieder in den Vordergrund getreten; allein auch hier hat es sich nur um be­kannte und erprobte Talente gehandelt. Um Adolf Sonnenthal von dem Wiener Burgtheater, um Ernesto Rosst und Friedrich Haase zu sehen, haben sich die älteren und jüngeren Freunde dieser Künstler zahlreich in den Theatern zusammen­gesunden, und die Schauspielkunst, freilich nur die alte, hat einen Triumph geseiert ein Glück, das ihr lange versagt geblieben. Denn an mächtig ergreisenden, durch den Zauber oder die Gewalt der eigenen Persönlichkeit die Zuschauer sesselnden Künstlern und Künstlerinnen ist das jüngere Schauspielergeschlecht empfindlich arm. Von genialisch veranlagten Schauspielern wie Bogumil Dawison und Marie Seebach, Theodor Döring und Minona Frieb-Blumauer ist nirgends etwas zu spüren; selbst die mehr durch die Vollendung ihrer technischen Kunst als durch die schöpferische Kraft ihrer Phantasie hervorragenden Talente wie Sonnenthal und Haase ließen bei ihren Gastspielen im Residenz-, Berliner- und Lesfing-Theater weit ihre Mitspieler hinter sich zurück. Eine Ruine nun gar, wie es Ernesto Rosst jetzt ist, erscheint immer noch wie ein Wunder­werk in einer Pygmäenwelt.

An der Versimpelung der Schauspielkunst, dem Uebergewicht einer wohlgeschulten Mittelmäßigkeit, deren Niveau sich in dem Handwerksmäßigen der Kunst und in der stimmungsvollen Abtönung des Znsammenspiels außerordentlich gegen früher gehoben hat, und der Verschleifung der schauspielerischen Persönlichkeit in die allgemeine Halb­bildung ist der demokratische Charakter der Zeit nicht ohne Schuld. Die Menge der Theater macht es unmöglich, dem Publicum auch nur Kräfte dritten Ranges in allen Rollen vorzusühren; die Hauptsache für den Regisseur ist darum der Durchschnittsdrill für Alle, nicht die Entwickelung und Pflege des besonderen Talentes. Nicht um das Gelingen der einzelnen Leistung, sondern um die angemessene Gesammterscheinung handelt es sich. Um eine starke Wirkung zu erzielen, werden überall die grellen Farben und Töne erhöht. In den historischen Dramen sind die Massenscenen für das Publicum wie für die Regisseure die entscheidenden geworden. Die Pantomimen und der Cirkus greifen immer verwegener auf die Bühne hinüber, und der Chor der Statisten treibt die Schauspieler immer weiter in die Enge und in den Hintergrund. Die moderne dramatische Dichtung bevorzugt beinahe ausschließlich die Vorführung und Bewegung großer Massen auf der Bühne oder die Darstellung des grauen Elends und der Ver­kommenheit. Daß die Schauspielkunst in diesen Elementen bisher große oder auch nur eigenthümlich interessante Ausgaben gesunden hätte, wird Niemand behaupten können. Noch weniger weiß sie mit den problematischen Figuren Jbsen's etwas Rechtes