448
Deutsche Rundschau.
anzufangen, denn das Nationale in ihnen, das der dänische oder norwegische Schauspieler lebendig herauszuarbeiten vermag, entgeht den unsrigen ganz. Das Graue, Oede, Unbehagliche, das der Dichtung anhaftet, theilt sich der Schauspielkunst mit, die schließlich einen ihrer größten Effecte darin findet, den Zuchthäusler, der nur noch eine Nummer ist, getreu nach der Natur darzustellen. Der Naturalismus, der eine neue dramatische Kunst, im Widerspruch zu den Bedingungen des Theaters, ohne Handlung, ohne Verwicklung und Uebertreibung, ohne Maske und Kothurn haben will, vernichtet folgerichtig auch die ganz auf die Persönlichkeit gestellte Kunst des Schauspielers, die ohne Schein und Schminke nicht bestehen kann.
Bei dem geringen Nachwuchs schauspielerischer Talente wird jede Lücke, die in dem Personal unserer Schauspielergesellschaften eintritt, schmerzlich empfunden, um so schmerzlicher, wenn die Scheidende ein so langjähriges und beliebtes Mitglied derselben gewesen ist wie Fräulein Clara Meyer, die am Mittwoch den 8. April von der Bühne des Schauspielhauses in der Rolle der Porzia in Shakespeares Lustspiel „Der Kaufmann von Venedig" Abschied nahm. Invitus invltam ckiinisit, wie Sueton von Titus und Berenice erzählt: so ließ das Publicum widerwillig die leise Widerstrebende unter einem Blumenregen, der nicht aufhören wollte, ziehen. Zwanzig Jahre, vom 1. Mai 1871, ist Clara Meyer in seltener Anmuth und echter Weiblichkeit, in einer Schönheit und Jugendlichkeit, der die Zeit nichts anhaben konnte, in den elastischen Dichtungen wie in den modernen bürgerlichen Schauspielen und Komödien eine Stütze und eine Zierde der königlichen Bühne gewesen. Ihr Talent wurzelte stärker in der Einfachheit und in der Naivetät als in der tragischen Leidenschaft, ihre Wandlungsfähigkeit war begrenzt; immer aber, wo das Wesen der dichterischen Gestalt mit ihrer eigenen, mehr sanften und zärtlichen als energischen Persönlichkeit sich berührte, schmeichelte sie sich den Zuschauern gleichsam in die Augen und in das Herz. Als Thekla, Beatrice in der „Braut von Messina", als die Königin in „Don Carlos", als Grillparzer's „Hero", als Shakespeares „Viola" konnte sie nicht leicht übertroffen werden; für viele Freunde des Theaters hat sie diese Figuren unvergeßlich mit ihrem Namen verknüpft. Die Seite ihrer Begabung aber, die sie zu einer originalen und in ihrer Art einzigen Schauspielerin machte, lag in dem Gebiete der modernen Komödie. Die Anziehungskraft, welche die Lustspiele Putlitzens, Paul Lindau's, Gensichen's und Lubliner^s, oft zur Verwunderung der Fremden, in dem Berliner Schauspielhaufe ausübten, lag einmal in dem unvergleichlichen Ensemble, das damals Minona Frieb- Blumauer und Marie Keßler, Liedtcke und Oberländer, Döring und Berndal bildeten, und dann in dem Schwünge, dem Reiz, dem quellenden Uebermuth des Humors und
der Lebensfreude, die Clara Meyer den Mädchen und jungen Frauen dieser Stücke
einflößte. Ihre Beobachtung der Wirklichkeit, ihr Eindringen in die moderne Empfindung, ihre Wahlverwandtschaft mit dem typischen Fühlen und Denken des modernen Weibes vertiefte sich von Jahr zu Jahr; noch zuletzt hat sie als Turgenjew's „Natalie" und als Jbsen's Ellida in der „Frau vom Meere" die Reife und die Eigenart ihres Wesens ebenso überraschend wie hinreißend offenbart. Ob die Leitung in den Damen Rosa Poppe und Amanda Lindner etwas wie einen Ersatz für die Künstlerin, die uns verlassen hat, finden wird, kann die Zukunft allein lehren.
Leider ist diese Zukunft wieder ganz in das Ungewisse hineingerathen. Seit der
Mitte December des vergangenen Jahres hat die Hofbühne in dem Herrn Oberregisfeur Max Grube einen neuen künstlerischen Leiter erhalten. Wenig über ein Jahr, von dem 1. September 1890 bis zum 15. December 1891, hat die directoriale Herrlichkeit des Herrn I)r. Otto Devrient gedauert, der, wie es hieß, mit so außerordentlichen Vollmachten fein Amt antrat, von dessen Thätigkeit man sich so Großes versprach. Otto Devrient ist zu kurze Zeit in einer so Verantwortlichen und schwierigen Stellung gewesen, als daß eine gerechte Würdigung seiner Begabung möglich wäre. Er ist kaum in seinem Amte warm geworden. Die kleinen Verhältnisse, aus denen er zu uns kam, von Weimar und Oldenburg, die einseitig elastisch-literarische Richtung, die er aus der Schule seines Vaters, Eduard Devrient's, mitbrachte, hatten feinen Gesichts-