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Organisation, Führung und Personalmanagement : neue Perspektiven durch Flexibilisierung und Individualisierung / von Dieter Wagner
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Organisation, Führung und Personal 265

Die Überschätzung vieler Beurteilungssysteme beruht oft auf der stillschweigen­den Unterstellung der Eigenschaftstheorie der Führung und ihrer grundlegenden Annahme, daß bestimmte Eigenschaften für den Führungserfolg maßgeblich sind. Andere situative Faktoren(z.B. der Vorgesetzte, die Art der Aufgabe, die Kollegen) und die Querverbindungen zwischen diesen Faktoren werden hin­gegen vernachlässigt. Deswegen sind auch Potentialbeurteilungen nur begrenzt machbar und aussagefähig. Assessment Center, die immerhin das Verhalten in bestimmtentypischen Situationen bei der Bewältigungtypischer Aufgaben oder Probleme bewerten, kommen trotz zunehmend positiver Einschätzung oftmals nicht über die Abbildung von Laborbedingungen hinaus. Insofern soll­te man sich insgesamt davor hüten, sowohl vergangenheits- als auch zukunfts­orientierte Beurteilungsergebnisse in allzu starkem Maße zur zentralen Auswer­tung für Maßnahmen der Personalentwicklung heranzuziehen.

Andererseits können Beurteilungsverfahren im Rahmen der unmittelbaren Per­sonalführung zur Zusammenfassung der im Laufe eines Jahres bereits geführten Mitarbeitergespräche und als Check-List der im Unternehmen als wesentlich erachteten Beurteilungsmerkmale verwendet werden. Die Wirklichkeit sieht al­lerdings in vielen Unternehmen ganz anders aus: Beurteilungsgespräche finden oft nur statt, weil der Beurteilungsbogen bis zu einem bestimmten Termin ausge­füllt werden muß. Hier sind also verschiedene Verhaltensänderungen erforder­lich, um Beurteilungen als selbstverständliches Instrument der Personalführung zu akzeptieren, bei dem das offizielle Formular lediglich begleitenden Charakter hat. Man könnte sogar soweit gehen, formalisierte Beurteilungsverfahren abzu­schaffen, wenn das regelmäßige Beurteilungsgespräch Selbstverständlichkeit ge­worden wäre.

Beurteilungssysteme sollten in erster Linie als Check-List und als Dokument für das Beurteilungsgespräch zwischen dem Vorgesetzten und seinem Mitarbeiter dienen. Darüber hinaus bilden sie in vielen Unternehmen eine notwendige Grundlage für die Vergabe von Leistungsprämien. Für die zentrale Auswertung im Hinblick auf personalwirtschaftliche Entscheidungen wie Beförderung und Versetzung können sie nicht mehr sein als eine Informationsquelle neben mehre­ren anderen. Andererseits ist eine permanente Systempflege mit entsprechenden Auswertungsmaßnahmen erforderlich, damit statistischen Fehlentwicklungen, wie z. B. einer allzu starken Mittelwertverschiebung, begegnet werden kann.

Beurteilungssysteme können nicht mehreren Zielen zugleich dienen und müssen insofern vornehmlich anlaßbezogen eingesetzt werden. Der in manchen Unter­nehmen bestehendeSystemfetischismus sollte nüchterner Betrachtung weichen, wobei dem Beurteilungsgespräch größere Bedeutung beizumessen ist. Vor diesem Hintergrund sind Beurteilungsverfahren durchaus mehr alsUnsinn mit Methode, obwohl das Ideal wissenschaftlicher Exaktheit wahrscheinlich niemals erreicht werden kann.