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Sonderheft 2, Zur Entstehungs und Wirkungsgeschichte Fontanescher Romane
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ist, doch noch gelobt zu werden.» An dieser Stelle wird deutlich, daß Fon­tane die in «Irrungen, Wirrungen» begonnene Debatte direkt fortsetzt, in­dem er Stine Anschauungen in den Mund legt, die seine eigenen sind. Erst allmählich wurde sich Fontane bewußt, daß die Angriffe vorgeblicher Sitten­wächter auf sein Werk keineswegs in erster Linie auf die Darstellung eines freien Liebesverhältnisses zielten. Gewiß hatte der Dichter damit ein Ge­sellschaftstabu verletzt, und die Gelassenheit, Natürlichkeit und Objektivi­tät, die er dabei an den Tag legte, war anstößig genug. In Wirklichkeit rich­tete sich der Vorwurf weniger gegen das Problem des «Abkommens» als gegen Fontanes Parteilichkeit in der Frage des «Herkommens». Hinter der vordergründigen Verurteilung Fontanes als eines Verächters der guten Sitten der bürgerlich-preußischen Gesellschaft steht die Absage an den Dichter, der es wagte, die unverhüllte Sympathie für ein Mädchen aus den unteren Schich­ten zu verknüpfen mit einer Absage an die Welt der Oberen. Denn Fontane hatte über die Darstellung der «natürlichen Konsequenzen» hinaus die sozia­len Schranken bezeichnet und attackiert, an denen Botho und Lene notwendi­gerweise scheitern, und keinerlei Zweifel daran gelassen, in welcher der bei­den Parteien er das gesellschaftlich Neue und in welcher er das hoffnungslos Alte, Überholte verkörpert sah.

In den Tagen und Wochen nach dem Abdruck von «Irrungen, Wirrungen» war es eigentlich außer den Familienangehörigen nur Paul Schlenther, der sich vorbehaltlos zu Fontanes Werk bekannte. Fontane nahm am 14. Septem­ber Gelegenheit, sich bei Schlenther zu bedanken: «Ihre freundlichen Worte über .Irrungen, Wirrungen haben mir sehr wohlgetan, da bis jetzt nur wenige den Mut gehabt haben, sich ehrlich zu den darin niedergelegten Anschauun­gen zu bekennen. Die meisten, soweit sie nicht Heuchler sind, warten, gestützt ,auf des Mutes beßren Teil, erst ab, wie der Hase läuft. Nur alle Mitglieder meiner Familie, die doch vielleicht am ehesten die Nase rümpfen könnten, haben sich rückhaltlos für den .Alten erklärt. Mein alter Theo in Münster an der Spitze, der mich in seiner Mischung von Tugend und natürlicher Ver­wegenheit (alle Natur ist verwegen) geradezu gerührt hat.»

Eine kleine Episode aus diesen Tagen, über die Fontane am 20. September ärgerlich-belustigt in Briefen an Schlenther und an seine Frau referiert, machte ihm deutlich, wie sehr er mit seiner Geschichte von Lene und Botho der Realität nahegekommen war. Fontane schreibt an Schlenther (in Beant­wortung einer Karte des Kreises der « Zwanglosen », die sich mit «Irrungen, Wirrungen » solidarisierten): « Eben, während ich diese Zeilen schrieb, war eine Dame von sechsundvierzig bei mir, die mir sagte, ,sie sei Lene; ich hätte ihre Geschichte geschrieben. Es war eine furchtbare Szene mit Massenheule­rei. Ob sie verrückt oder unglücklich oder eine Schwindlerin war, ist mir nicht klar geworden.» Im Brief an Emilie wird dann sogar der Name der Be­sucherin verraten: « Die Dame, Frau Poggendorf, die mich zum Rendezvous bestellte, war heute früh 9V2 hier und blieb eine halbe Stunde. Ich bin nicht

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