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Deutsche Rundschau.
Wir es nur einmal anders zu machen; dann merken wir gleich, wo es fehlt und helfen dem wieder ab. Und ähnlich wie mit dem Lesen in einem Buche ist es auch mit der Betrachtung anderer Gegenstände, die wie die Schrift in einem Buche gewisse Hanptdurchmesser haben, längs deren wir das Bedürfnis haben, den Blick über sie hin und her zu führen, wenn wir sie recht mit den Augen erfassen wollen. So z. B. die Fassade eines Hauses oder das Gesicht eines Menschen. Wenn wir in dasselbe recht hineinsehen, gleichsam auch in demselben lesen wollen, machen wir ebenso, daß unser eignes Gesicht ihm gerade gegenüber kommt. Wenn wir neben das Bett eines Kranken treten, um zu sehen, wie es ihm geht und nicht nur mechanisch einen Blick hinein und auf ihn werfen, sondern ihn begrüßen und ihm theilnehmend ins Gesicht schauen, so biegen wir unfern Kopf so auf die Seite nach dem Kopfende des Bettes und über dasselbe hin, daß unser Gesicht dem im Bette richtig vis ä vis zu stehen kommt. Und wenn eine Mutter ihr Kind auf dem Schoße hat und ihm so recht voll Freude ins Gesicht sehen will, so dreht sie Kopf und Augen nicht nur hin, sondern auch so hin, daß sie das kleine Gesichtchen ihrem Gesicht so gerade gegenüber hat, Wie man das Buch vor sich hin hält, worin man lesen will, klassisch fixirt ist diese Kombination der Bewegungen des Blickes in dem reizenden Bilde, welches das Berliner Museum von dem größten aller Maler besitzt, Raphael's Madonna aus dem Hause Colonna, wo die Mutter den Kops von dem Buche, worin sie gelesen, dem Kinde zuwendet, das aus ihrem Schoße erwacht ist und ihn mühsam so zur Seite wendet, daß sie ihm auch gleich gerade in sein Gesichtchen hineinsehen kannH.
Auch in diesen Fällen ist sich nun der Mensch, der das thut, sind wir uns, Wenn wir an das Bett des Kranken treten, ist sich die Mutter, die ihrem Kinde ins Gesicht sieht, nur deutlich bewußt, dies zu thun in der Absicht zu sehen, Was sie sehen; aber daß sie diese Bewegung gerade in der Form ausführen, die am geeignetsten ist, den Zweck in der wirksamsten Art zu erreichen, den vollsten Eindruck von der Art des Hinsehens zu erhalten, dies ist doch unbewußt die Folge der Art von Interesse, der vollen Hingabe an den Gegenstand, der angeblickt wird, also doch im Grunde auch noch eine Wirkung einer unbewußten Absicht, die sich mit dem bewußten Willen verbindet. Und in diesem Zusammenhänge von einer geistigen Intention mit der bestimmten Art von Ausführung der Bewegung ist es begründet, daß dieselbe auch im Bilde oder im Leben auf einen Zuschauer einen solchen Eindruck macht, daß er auch die unbewußte Absicht des Blickes darin erkennt; mit einem Worte: es beruht in diesem Zusammenhänge von Motiv und sichtbarer Bewegung, wenn es nachher der Zuschauer herausfühlt das, was man den geistigen Ausdruck des Blickes nennt. In der Stellung des Kopses und nicht in irgend einer besondern Art von Glanz des Auges liegt der Ausdruck des Blickes im Leben und in einem Bilde, weil jene und nicht diese
i) Für die Glücklichen, die in Rom waren, erinnere ich an ein zweites liebliches Werk vor derselben Hand, in dem der Ausdruck der Hauptfigur ganz auf derselben Pointe beruht. Es isl die Tochter Pharaonis auf dem Bilde der Findung Mosis in der Loggia des Vaticans, wie st ihren Kopf dem des Kleinen entgegen zur Seite biegt.