Heft 
(1891) 67
Seite
72
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72 Deutsche Rundschau.

Erhalten mögen gegen hundert sein. Sie sind in allen Sammlungen der Welt zerstreut.

In der Freiheit der Anordnung und Auffassung seiner Bildnisse hat Tizian in sich selbst keine große Entwicklung mehr durchgemacht. In der Freiheit, Flüssig­keit, Breite und Leichtigkeit der malerischen Behandlung aber sind seine späteren Bildnisse den noch fester und verschmolzener behandelten früheren überlegen. Gerade die Bildnisse seines Alters stehen in dieser Beziehung bereits aus eineni Standpunkt, den kein zweiter Maler des sechzehnten Jahrhunderts erreicht hat und zu dem nur die großen spanischen und niederländischen Bildnißmaler des siebzehnten Jahrhunderts sich wieder emporgearbeitet haben. Man denke nur an seine Tochter Lavinia im Weißen Kleide in der Dresdener Galerie, an seinen Karl V. im Armstuhl in der Münchener Pinakothek, an seinen Philipp II. iri Madrider Museum. Die geniale Freiheit der geistigen Auffassung wird hier nur durch die geniale Freiheit der technischen Behandlung ermöglicht.

Zur Schlußbetrachtung aber empfiehlt sich uns vor allen Tizian's Reiter- bildniß Karl's V. im Museum zu Madrid. Der Meister hat es 1548 in Deutsch­land, in Augsburg, gemalt, wo er damals am kaiserlichen Hofe weilte. Er stellt! den Kaiser hoch zu Roß in schwerer Rüstung dar, wie er als Sieger aus der ver- hängnißvollen Schlacht bei Mühlberg hervorgegangen war. Wohl erhalten ist es leider nicht. Aber als einziges erhaltenes großes Reiterbildniß von Tizian's Hand zeigt es uns doch deutlicher als viele andere Darstellungen die Großartig­keit und Freiheit seiner Auffassung. Roß, Reiter und baumreiche Landschaft sind aus einem Gusse gestaltet. Des Kaisers graue Haut, sein bereits bereifter Bart sein tiefes, durchdringendes Auge verleihen dem überzeugend charaktervollen Kopj ein wunderbares Eigenleben. Wir fühlen auch die Echtheit der Gestalt, der Hal­tung, der Bewegung, die durch die schwere Lanze in seiner Rechten bedingt wird. Das ist nicht nur ein Bildniß, das ist ein Geschichtswerk ersten Ranges. Und welch malerischer Reiz liegt in dem Spiel des Sonnenlichts um das ernste Ant­litz des Kaisers, in seinem Widerschein an der blanken Stahlrüstung, in der ruhft einheitlichen Farbenwirkung des Ganzen! Das ist nicht nur ein Geschichtsbild das ist eins der reinsten und höchsten Meisterwerke der ganzen Malerei.

Welcher Abstand zwischen jenen frühen, herben, plastisch gedachten Reiter Lildnissen Uccello's und Castagno's im Dom zu Florenz und dieser durch Mt durch malerisch und zugleich durch und durch geschichtlich empfundenen und be­handelten Schöpfung einer reifen, freien Kunst! Ein Jahrhundert der Bildrch malerei lag zwischen jenen Werken und diesem. Höher konnte sie jetzt mH steigen. Der Bildnißmalerei aller Zukunft waren die Wege gewiesen. VelazqM und van Dyck mußten in Tizian's Fußtapsen treten. Uebertreffen konnten ft ihn nicht.