Issue 
(1891) 67
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Deutsche Rundschau.

Franzosen. Jede politische Veränderung in Paris brachte ihrer neue Scharen: An­gehörige aller Parteien, Männer und Frauen, Diplomaten und Officiere, Adlige, Bürgerliche und Priester, Würdige und Unwürdige, Reiche und Verarmte. Die bedeutendsten von ihnen waren an das Sieveking'sche Haus empfohlen, wo sie gastliche Aufnahme fanden. Zuweilen wurde es der Doctorin doch zu viel. Es kam vor, daß an den Sonntagen in Neumühlen für siebzig bis achtzig Personen gedeckt war und die Tafel doch nicht ausreichte für die schrankenlos ausgeübte Gastfreundschaft. Und die wackere, Frau kann den Seufzer nicht unterdrücken, daß Elemente unter den Ausgewanderten sind, an denen sie keine Freude hat. Hier wimmelt Alles," schrieb sie an den Freiherrn von Knigge,von Aus­gewanderten aller Nationen, dadurch wird der Preis der Lebensmittel theuer und die Moralität gewinnt nicht durch den Luxus der reichen Polen und Hol­länder." Und ein anderesmal:Was war Frankreich für ein Nest, wo alle diese Menschen drinnen waren! Welche Verderbung unter den Ausgewanderten! Nur Atheismus oder dumme Bigotterie" H.

Die Begeisterung für die französische Revolution war auch in diesem Kreise durch die seitherigen Ereignisse gedämpft worden. Mit jener unschuldigen Freude war es längst vorbei, mit der man aus Anregung Sieveking's den ersten Jahrestag des Sturms auf die Bastille durch ein ländliches Fest in Harvstehude gefeiert hatte, mit Gesang und Tanz, mit Böllerschüssen, Gläserklingen und Wonnethränen. Noch früher als Klopstock gab der alte Reimarus bitterem Un- muth Ausdruck.O Weh," schrieb er am 27. December 1791 an Knigge,daß die Franzosen alle gute Hoffnung, die man von ihnen hatte, so zurichten, allen guten Willen anderer Völker von sich abwenden!" Ein Jahr später schrieb die Doctorin an ihren Bruder:Nein, die Franzosen sind keine Nation, mit der man sich brüderlich verbinden kann. Ich mag ihr Bürgerrecht nicht. Gute Freiheit, warum bist du nicht in andere Hände gefallen!" Den Glauben an die Freiheit, an einen guten Ausgang der fürchterlichen Bewegung ließ sich dieses im Optimismus des achtzehnten Jahrhunderts herangewachsene Geschlecht gleichwohl nicht rauben. Wenn die Doctorin das eine Mal überdie Scheusale" in Frankreich schilt, so ist sie ein anderes Mal geneigt zu denken, daß die Grausamkeiten zwar schrecklich sind, aber vielleicht sein müssen. Sie erhebt sich zu einer Art ge­schichtsphilosophischer Betrachtung. Mitten in der Schreckenszeit tröstet sie sich mit einem Blick in die Zukunft:Um ruhig und mit Zutrauen über das alles zu urtheilen, muß man mit der Geschichte sich dreißig Jahre weiter hinaus setzen, beim Zurückblicken wird das Auge dann alle Grausamkeiten, die dazwischen liegen, übersehen und nur Sklaverei am Anfänge und Glück und Freiheit am Ende erblicken. Wüßten doch die Könige, daß Alles, was sie dagegen thun, den Geist der Sache stärker treibt!" Reimarus selbst, indem er beklagte, daß die ausschweifenden Leidenschaften in Frankreich so viel verdorben haben, fügte hinzu: Im Ganzen ist doch gewiß viel Gutes daraus entsprungen, welches der Des­potismus nicht wieder auslöschen kann." War das nicht derselbe Glaube, zu

0 Vergl. Poel, Bilder aus vergangener Zeit, Bd. I, S. 50, 56. Die Briefe an Knigge (in G. Klenke) Aus einer alten Kiste.