Heft 
(1891) 67
Seite
117
Einzelbild herunterladen

Aus Karl Friedrich Reinhard's Leben.

117

jedem Fremden das Gefühl gab, als sei er hier zu Hause.Reinhard, der sonst etwas ernst und zurückhaltend ist, thaut hier aus und redet gerade und offen über Alles, worüber er reden darf. Madame Reimarus salzt Alles durch ihren Witz, ihre seine, gutmüthige Persiflage und ihren scharfen Beobachtungsgeist; Reimarus gibt seine Ideen sorglos und unbefangen; seine verständige, ausgebildete Schwester bringt ihre nahrhafte Schüssel zu dem geistigen Pickenick, und Madame Reinhard gibt dem Ganzen einen lieblichen Hautgout durch ihre Naivetät und ihre seine Weiblichkeit. Im üblen Sinne des Wortes sagt Goethe von manchen Menschen, daß sie durch den Verstand empfinden; von ihr möchte ich sagen, daß sie durch ihr Herz denkt." Reinhard erzählte an diesem Abend Selbsterlebtes aus der Schreckenszeit, und der Gast fuhr, glücklich durch mannigfaltigen Genuß, nach Hause, indem er sich Alles in seiner Einbildungskraft zu bleibendem Genüsse wiederholte.

An einem Sonntag Nachmittag war Ewald zu Sieveking's nach Neumühlen geladen. Er traf hier eine Gesellschaft von fünfzig Personen, darunter Klopstock, Büsch, dessen Schwiegersohn Piter Poel, Reinhard, den Domherrn Meyer mit ihren Gattinnen und den Doctor Unger aus Altona. Nach Tisch zerstreute sich die Gesellschaft in den Anlagen, die sich zur Elbe hinunterzogen mit schattigen Gängen, Lauben, Rasenplätzen, Aussichtspunkten. Ein kleinerer Theil der Gäste fand sich mit Christine Reinhard in einer der Lauben ein.Schon vorher," er­zählt Ewald,hatte sie mir ein kleines Stück von Goethe mit einer so eigenen Art hergesagt, daß ich sie bat, noch einige Gedichte ebenso zu declamiren." (Jenes war das damals noch ungedruckte: Künstlers Fug und Recht.Ein frommer Maler mit vielem Fleiß n. s. w.", das Christine durch Fritz Jacobi erhalten hatte).Doch, ich mag ihr natürliches, mit dem einzigen Tone der Wahrheit aus ihr herausfließendes und durch den Ton der Wahrheit unser Innerstes so unmittelbar und doch so leise berührendes Recitiren kaum Decla- mation nennen. Sie sagte uns einige Lieder von Unger, so: Das Lob der Thränen, An die Lerche, An die Nachtigall. Das erste besonders konnte nur ein Tiefleidender dichten, und es ist zu bewundern, daß eine nicht Leidende es mit der Wahrheit, mit der stillen einfachen Innigkeit so hersagen konnte." Ewald, der, als er noch in Offenbach war, in der Lilli-Zeit zum Goethe'schen Kreise gehört hatte, fand sich durch die Art ihres Vortrages an Goethe's Declamation erinnert,der mit wenigen Tönen ehemals Alles ausdrückte, was er wollte."

Nicht so günstig, wie wir sie bisher vernommen, sind andere Urtheile über Christine, Urtheile, die von Nahestehenden ansgehen. Sie kommen darauf hin­aus, daß bei Christine unter einer künstlichen und absichtvollen Bildung Natur und ursprüngliches Wesen verkümmert worden sei. Piter Poel, der sonst für Frau Reimarus nur Worte höchsten Lobes hat, tadelt einzig an ihr die Art, wie sie ihre Tochter erzogen habe.Die Natur hatte dieses junge Mädchen nicht dazu bestimmt, eine Rolle in der Welt zu spielen; es fehlte ihrer Jugend an Frische, ihren Gesichtszügen an gefälligem Ebenmaß, ihrem Körper an Gesund­heit, Grazie und Gewandheit, ihrem Geiste endlich an Kraft, Muth und Heiter­keit. Sie war ein sanftes unbehülsliches Geschöpf mit nicht gemeinem Verstände und einem außerordentlichen Gedächtnisse begabt, und würde, mit diesen Vor-