Aus Karl Friedrich Reinhard's Leben.
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alte Gewohnheiten und Vormtheile zurückgeworfen. Paris schwimmt in Vergnügungen. Es ist eine Republik ohne Republikaner, ein Königthum ohne König!" Da kommt plötzlich die Nachricht vom Staatsstreich des 18. Fructidor (4. September). Durch dieses Ereigniß ist Alles mit einem Schlage verändert. Wiederum eine der großen Schicksalswenden im Verlauf des blutigen Dramas. Noch einmal haben die Jakobiner sich der Gewalt bemächtigt, durch Aechtung und Deportation ihre Gegner beseitigt. Wird das nicht auch Reinhard, dem ^ langmüthigen Vertheidiger, zu viel sein? Dieser Bruch der Verfassung, dieser
Rückfall in die Methoden der Schreckenszeit? Der Eindruck ist ans ihn der entgegengesetzte: eben dieses Ereigniß, sagt er sich, ist die Rettung der Republik aus den Gefahren, die sie bedrohten. So schwere Wolken hatte er über den Horizont der Freiheit Hereinbrechen sehen, daß seine Seele ganz davon umdüstert war — jetzt ist das Gewölk plötzlich verjagt. Befreit athmet er auf und macht die Sache der siegreichen Jakobiner ohne Rückhalt zu der seinigen. Er hat um diese Zeit Kerner wieder nach Paris gesandt und die Aufschlüsse, die ihm „dieser junge Wirtenberger voll Vorzüge des Geistes und des Herzens" zusendet, sind für seine Auffassung entscheidend. Ja, ein politisches Meisterstück nennt er diesen Schlag gegen die royalistische Partei, und dem Oheim schreibt er: „Dieses Mittel, wenn das Directorium die Mehrheit in beiden Räthen nicht gütlich erhalten konnte, War das einzige, um die Republik zu retten, ohne die Constitution über den Hausen zu werfen. Freuen Sie sich mit mir! Es galt die Sache der Menschheit! Ich bin zu bewegt, um viel zu schreiben. Nicht ein Tropfen Blut scheint * geflossen zu sein!" Doch der ehrliche Hennings ist weit entfernt, dieser Auf
forderung zur Mitfreude zu entsprechen. Sein moralisches Gefühl bleibt von dem jakobinischen Staatsstreich tief verletzt. „Ist das der Sieg der Freiheit," schreibt er an seine Schwester, „wenn der entschiedenste Sultanismus das Mittel wird? Ist das Menschlichkeit? Ist das Abschaffen der Blutgerüste, wenn man auf die grausamsten Todesarten, auf Verbannung nach einer vergifteten Luft, wo der Tod unfehlbar ist, rafsinirt! Nein! Frankreich ist nicht frei, die Regierung ist nicht gesichert, so lange solche Mittel nöthig sind. Ich gestehe es, weniger als je traue ich der französischen Verfassung und der Freiheit." Und an Reinhard selbst schreibt er zurück: „Ist das der Gang der Aufklärung, das vollkommene Menschheit! Mein Glaube an Menschheit, Freiheit, Aufklärung, Vervollkommnung in Masse wankt mehr und mehr, nur an Tugenden der Verborgenheit ist gottlob bisher mein Glaube nicht gescheitert, und das ist hinreichend, zu trösten." Reinhard selbst muß doch in seinem nächsten Briefe zugeben, daß es ein gefahrvolles, verzweifeltes Mittel ist, die Verfassung durch ' einen Bruch der Verfassung aufrecht zu erhalten; allein er bleibt dabei, daß nur
durch dieses Mittel die Republik gerettet werden konnte und daß um der Menschheit willen die Republik erhalten werden müsse.
„Auch zugegeben, daß unter den vierzig deportirten Repräsentanten die Hälfte die Republik, nur durch andere Mittel, habe erhalten wollen, was konnte sie hoffen, wenn sie mit solchen Alliirten wie Pichegru den Sieg erfochten hätte! Freilich ist der Regierung dadurch, daß sie die Constitution, ihre Garantie verletzte, aus einer nahen Gefahr in eine andere gerathen, die zwar entfernter, aber ebenso fürchterlich ist; künftige Verschwörer werden die Constitution durch die ; Constitution selbst zu stürzen, für einen zu langsamen Weg halten und mit rascher blutiger Gewalt-