Literarische Rundschau
Ilse Frapan.
Enge Welt. Novellen. Berlin, Gebrüder Paetel. 1890.
Zwischen Elbe und Alster. Hamburger Novellen. Berlin, Gebrüder Paetel. 1890.
Gedichte. Berlin, Gebrüder Paetel. 1891.
Vischer-Erinnerungen. Aeusterungen und Worte. Ein Beitrag zur Biographie Fr. Th.
Vischer's. Zweite Auflage. Stuttgart, G. I. Göschen. 1890.
Die deutsche Literatur hat eine große Anzahl epischer Talente hervorgebracht; Wie kommt eS trotzdem, daß wir nicht von einem deutschen Roman sprechen können, wenigstens nicht in dem Sinne, wie etwa vom englischen oder französischen? Wir erfreuen uns einiger Romanschriftsteller ersten Ranges; aber sie alle haben uns keinen Roman geschenkt, der den Geist unserer Nation, das Werden und Ringen unserer Gesellschaft in der Weltliteratur repräsentirt. Und ist es nicht ein Widerspruch, daß wir auf dem Gebiete der Novelle, obwohl meiner Ueberzeugung nach eine gute Novelle höher steht als ein guter Roman, Leistungen aufweisen, mit welchen kein anderes Schriftthum zu wetteifern vermag, Leistungen, in denen sich deutscher Charakter, deutsches Gemüth, deutsche Gedankenkraft glänzend und ergreifend widerspiegelt? Die Lösung dieses Widerspruches muß weniger in der Literatur als in den Schicksalen des deutschen Volkes seit den letzten Jahrhunderten gesucht werden. Der Roman ist eine Frucht, welche schwer und langsam aus altem Culturboden und aus historisch gefesteten, traditionell ausgereiften socialen Verhältnissen erwächst; nur das Volk kann ihn besitzen, dessen gesellschaftliche Formen, dessen Daseinsüußerungen überhaupt sich zu einem individuellen Ganzen verdichtet haben. Diese Vorbedingungen fehlen uns; wir haben die Folgen des dreißigjährigen Krieges noch immer nicht ganz überwunden, wir sind als geeinte Nation zu jung, als daß die Spätfrucht des Romans bei uns erwartet werden könnte.
Die Novelle hingegen bedarf zu ihrem Gedeihen keiner solchen Beihülfe der Cultur oder Gesellschaft, ohne welche der Roman als ein in die blaue Luft gebautes Wolkenschloß erscheint; sie bedarf nicht des Horizontes, der das Denken und Handeln eines ganzen Volkes überspannt. Aber weil sie gewissermaßen auf sich selbst angewiesen ist, stellt sie an den Dichter die größeren und subtileren Anforderungen. Zieht im Roman die Handlung wie eine gewaltige Wandeldecoration vorüber, entfaltet er Gruppen und Massen, so hört man in der Novelle nichts weiter als das Pochen eines Herzens und sieht nichts weiter als das sich vollendende Geschick einer Menschenseele. Nicht ohne Grund hat die nach innen gekehrte Poesie der Novelle gerade bei uns ihre herrlichsten Meister gefunden: der nachdenkliche deutsche Poet liebt es mehr, sich in zwei Augen zu vertiefen und den geheimnißvollen Zauber menschlicher Stimmungen und Gefühle zu erforschen, als sich auf einem Parkettboden zu bewegen oder im Trubel der Welt