Heft 
(1891) 67
Seite
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Deutsche Rundschau.

auff die eine Seite gestecket auch öffters mit einer Masche Band (unsere Schleife) an- gehefftet. Bey fürstlichen Personen wird es von denen Pagen getragen."

Diese ganze Beschreibung könnte Wort für Wort, mit Einschluß der Bleigewichte, ebenso gut von dem Ueberkleid und Schleppkleid unserer Tage gelten! Der gewiegteste Culturhistoriker würde hieraus den Unterschied jener Kleider von unserer Tracht nicht construiren können; aber man lege zwei Bilder der verschiedenen Zeiten neben einander, und der einsamsten Junggesellenweisheit springt der Unterschied in die Augen.

Anders dagegen liegt es natürlich aus dem Gebiete der Sitte und Lebenssührung. Hier herrscht der literarische Beleg.

Man kann kaum etwas Anziehenderes lesen als die vom Verfasser gemachten Zusammenstellungen. Soweit als irgend thunlich hat er die Derbheiten und Freiheiten jener Zeit in der Darstellung gemildert, aber sie völlig todtschweigen hätte das Bild entstellen heißen. Das Buch enthält nichts, was einer verständigen Frau anstößig erscheinen dürste; jedenfalls ist es für Alle, welche Freude an kulturgeschichtlicher Dar­stellung haben, eine reiche Fundgrube von absoluter Zuverlässigkeit und enthält zugleich ein tüchtiges Stück gesunden Humors, aus den unwirschen Schriften jener Zeit in genießbarer Form herausgeschält. I. Lessing.

Urtheil eines Arztes über I. I. Rousseau.

I. I. Rousseau's Krankheitsgeschichte von P. I. Möbius. Leipzig, F. C. W. Bogel.

1889.

Nicht Jeder, der ein Buch schreibt, ist so bereitwillig wie vr. P. I. Möbius, uns über die Umstände auszuklären, die sein Unternehmen begleitet haben:Erst spät habe ich Jean Jacques Rousseau kennen gelernt. Als ich vor einigen Jahren mehrere Wochen am Genfer See zubrachte, las ich zum ersten Male Rousseau's Bekenntnisse." Mit diesen Worten beginnt die Einleitung zur Arbeit des Herrn Verfassers, und wie vr. Möbius selbst es hervorhebt, ist er keineswegs der erste, den das Problem vom Geisteszustand und damit von der Zurechnungsfähigkeit des Verfassers des Social- contractes eingehender beschäftigt hat.

Unter den Schriften, durch welche er eine genauere Kenntniß seines Gegenstandes sich anzueignen gesucht hat, nennt er die großen Rousseau-Biographien des Franzosen Musset-Pathay und des Deutschen Brockerhoff, das vortreffliche Buch von Saint-Marc Girardin und einige Specialarbeiten über die Frage, die er selbst behandelt, und in Bezug aus welche Alfred Bougeault, ein Laie, und mehrere Aerzte, vr. G. H. Morin, L. A. Mercier, vr. F. Dubois d'Amiens und vr. Achille Chereau ihm vorgegriffen haben.

Wir zweifeln keinen Augenblick, daß damit die Liste des literarischen Materials, welches vr. Möbius benützt hat, und unter welchem Rousseau's Schriften selbstver­ständlich die erste Stelle einnehmen, noch lange nicht erschöpft ist. Er selbst nennt übrigens noch einschlägige Arbeiten von Gabriel, Jansen, Girardin und einiger Anderen. Bedenklich macht nur die Bemerkung, die Seite VII der Einleitung zu lesen ist: Abgesehen von den genannten Schriften habe ich in der französischen Literatur wenig Belehrung gesunden." Nun ist es aber ein charakteristischer Zug dieser ganzen Literatur, seit den hundert und zwölf Jahren, die zwischen Rousseau's Tode und der Gegenwart liegen, daß kein Name öfter als der seinige in derselben genannt ist, daß bis zum heutigen Tag kaum ein anderer so entscheidend für die Stellung bleibt, die der Essayist und der Historiker, der Romandichter und der Politiker, der Kritiker und der Moral­philosoph jenen Fragen gegenüber einnehmen, von welchen Wohl und Wehe der Menschheit abhängen und stets abhängen werden. Gewiß sind dem Herrn Verfasser die Meisterstücke tiefer, beredsamer und geradezu erschöpfender Psychologie nicht unbekannt geblieben, die Sainte-Beuve mit der großmüthigen Verschwendung geistigen Reichthums in Studien ausgestreut hat und von welchen fast alle Diejenigen, die mit der Zeit und Generation von I. I. Rousseau sich beschäftigen, Wissenswertstes über ihn bieten. Einen dieser Essays, den über Rousseau's Bekenntnisse, hat vr. Möbius in einer Note zu Seite 104 seiner Schrift allerdings auch erwähnt. Oder sollte es einer Erinnerung be-