Literarische Rundschau.
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dürfen, daß der erste Band von Taine, der unter dem Titel: ,,1/kneten Rägims" sein monumentales Werk über die französische Revolution eröffnet, nichts Werthvolleres zu bieten hat, als eben die klassische Darstellung des Wirkens von Rousseau, ohne welche alle folgenden Bände des großen französischen Historikers über das revolutionäre Drama unverständlich geblieben und im eigentlichsten Sinne des Wortes vergeblich geschrieben wären?
Um vom Einzelnen auf das Besondere überzugehen, hat schon Samte-Beuve davor gewarnt, den ehrlichen deutschen Oberpsälzer, Melchior Grimm, aus das Zeug- niß von Rousseau hin zu verurtheilen. Seit er diese Warnung ergehen ließ, hat die Veröffentlichung der Briese von Madame de la Live d'Epinay und Grimm's Biographie von Edmond Scherer, Arbeiten, an die ihrerseits wieder eine ganze Literatur anknüpst, die Sache in ein Licht gerückt, das auch die Auffassung des geehrten Herrn Verfassers wesentlich anders beleuchten dürste.
Jedenfalls ist er gewiß bereit, uns dieses zuzugestehen: An „dem Unglück", wie er Seite 41 seiner Schrift die erfolglose Neigung des fünfundvierzigjährigen, kränklichen, physisch wenig anziehenden Rousseau für die liebenswürdige Gräfin d'Houdetot, Schwägerin von Madame d'Epinay, nennt, war Grimm gewiß nicht schuld. Diese Neigung aber, die sich zur Leidenschaft steigerte, und einer Frau galt, die einem Anderen gehörte, gab den nächsten Anlaß zur Störung des ganzen Verhältnisses zu Madame d^Epinay und ihrem Freundeskreis. Ebenso unschuldig war Grimm an dem Auftreten von Voltaire gegen Rousseau, lieber Voltaire mag man denken, wie man will, und wir insbesondere haben nichts dagegen, wenn streng mit ihm ins Gericht gegangen wird. Es bedurfte aber wahrlich keines Dritten, um den Zorn dieses geistreichsten aller Spötter gegen den Verfasser des „Sendschreibens an d'Alembert über die Schauspiele" herauszufordern. Rousseau hatte Voltaire zuerst provocirt; später schrieb er ihm, daß er ihn Haffe. Es war vergebens, man möchte sagen kindisch, nach solchen Angriffen und auf einen solchen Gegner, noch über Repressalien zu klagen. Es waren nicht nur zwei sich antipathifche Naturen, sondern zwei Weltanschauungen, die da feindlich aneinander stießen. Was Voltaire erstrebte, war die Umgestaltung der religiösen und bürgerlichen Zustände, eine Reform des Bestehenden von oben herab, wie die aufgeklärten Fürsten des XVIII. Jahrhunderts sie verstanden. Was Rousseau gelehrt hat und wofür er verantwortlich bleibt, ist die politische Revolution aus dem Boden des Naturrechts, im Gegensatz zur Geschichte, durch den Appell an die Leidenschaft und aus Grund der abstrakten Theorie, deren Verwirklichung keinem Anderen als dem finsteren Urheber des Schreckens, Maximilian Robespierre, Vorbehalten war. Auch er nannte sich gottessürchtig, tugendhaft und gut, auch er war sentimental — sensible, wie die Zeit es nannte — beweinte das Schicksal eines gefangenen Vogels und huldigte feinem Lehrer und Vorbild, seinen: Erwecker Rousseau. Es ist uns nie als bloßer Zufall erschienen, daß diese zwei Männer, der eine ein Greis, der andere ein Jüngling, sich noch begegnet und einen Händedruck gewechselt haben.
Gerade die Ueberzeugung, daß der jüngere und logischere der beiden durchaus nicht der schuldigere war, steigert das Interesse, mit welchem wir uns der eigentlichen Ausgabe des Herrn Verfassers zuwenden. Sagt er uns, daß die Zurechnungsfähigkeit des Verfassers des „Socialcontractes" und der „Bekenntnisse" eine beschränkte war, so ist es künftig geboten, den Milderungsgrund gelten zu lassen.
Nach einer vorübergehenden Bemerkung über das wahrscheinliche Vorhandensein von Krankheiten des Gehirns in der Familie des Vaters, von welchen übrigens nur ein zweifelhaftes Beispiel nachweisbar ist, bezeichnet vr. Möbius den jungen Rousseau als ein im Ganzen gesundes Kind. „Jedoch war ein Bildungsfehler der Blase vorhanden, welcher ihm fast während seines ganzen Lebens schwere Leiden verursachte." Doch trübten diese Leiden seine Jugend nicht, und über die „abnorme" Art und Weise, wie sich bei Rousseau der Uebergang zu den Jahren der Reise vollzog, verweisen wir am besten aus das Buch selbst iS. 5—7) und die „Bekenntnisse". Er war etwa zweiundzwanzig Jahr alt, als ihn eine heftige, kurze Krankheit, „vielleicht eine Lungenentzündung" befiel; er erholte sich langsam, klagte aber in den nächsten Jahren über Abnahme der Kräfte und suchte selbst die Ursache in Erregbarkeit und