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Deutsche Rundschau.
übergroßer Leidenschaftlichkeit. Es war das die Zeit des Verhältnisses zu Mme. de Warens, die ihn pflegte und dem Tod entriß, als eine neue Krankheit sein Leben ernstlich in Gesahr brachte. Es blieb ein Arterienklopsen und Ohrensausen zurück, von dem er sagt, daß es ihn dreißig Jahre lang nicht verlassen habe. Diesem peinlichen Zustand, den die heutige Wissenschaft als Neurasthenie bezeichnet, gewährte, aus dem Wege nach Montpellier zu einem berühmten Arzt, die Bekanntschaft mit einer hübschen Dame Erleichterung. Der Zustand selbst währte im Ganzen etwa drei Jahre. Rousseau stand in seinem dreißigsten Jahr, als, zu Venedig und zum ersten Male seit der srühen Kindheit, die Blasenbeschwerden wiederauftraten, die ihm bis zum Jahre 1765, wo sie seltsamer Weise sich erheblich besserten, das Leben verbittern sollten, vr. Möbius ist den Aeußerungen Rousseau's über die Art des Leidens selbst, das seinen Hang zur Einsamkeit und seine Scheu vor Menschen, besonders vor zahlreichen Gesellschaften, auss einfachste erklärt, mit größter Aufmerksamkeit gefolgt, und dabei ist er zum Schluß gekommen, daß „seelische Momente bei seinen Blasenbeschwerden vielleicht eine ebenso große Rolle wie die anatomischen Veränderungen spielten." Einzelheiten darüber sind am besten in seinem Buche nachzulesen (S. 24—30).
In Bezug nun aus diese seelischen Momente ist es von Wichtigkeit, daß Rousseau, dessen Mutter bei seiner Geburt starb, der sorgenden mütterlichen Liebe stets entbehrte, daß er statt dessen als sechsjähriger Knabe Nächte hindurch mit seinem Vater Romane las und so die ungestüme, ungezügelte Phantasie genährt wurde, welche die Quelle seiner Leiden, seiner Verirrungen, aber freilich auch feines ungeheuren Talentes gewesen ist. Es hat sich verhältnißmäßig sehr spät, in seinem achtunddreißigsten Lebensjahre Bahn gebrochen, dann aber mit solcher Macht, daß in der kurzen Spanne Zeit, zwischen 1749 und 1761, alle seine epochemachenden Schriften, mit Ausnahme der „Bekenntnisse" entstanden. Noch in Bezug auf die Entzweiung mit Grimm, welche in das Jahr 1757, also in die Tage voller Productionskraft fällt, erklärt vr. Möbius, die Meinung, als habe man es hier mit dem ersten Ausbruch von Rousseau's Verfolgungswahn zu thun, sei „ganz thöricht." Auch das Verhalten desselben im Jahr 1761, als er seine erprobtesten Freunde, die Luxembourgs und Herrn von Malesherbes, eines abscheulichen Komplottes gegen ihn zieh, erscheint dem deutschen Arzt zwar krankhaft, aber „doch kein Irrsinn im engeren Sinne des Wortes." Erst im Jahre 1770, also volle neun Jahre später, gilt ihm Rousseau „zweifellos von Verfolgungsvorstellungen beherrscht", und nach dem Brief an Hume, welchen dieser selbst dem Wahnsinn zugeschrieben hat und der sich allerdings nicht anders erklären läßt, spricht vr. Möbius zum ersten Male von Paranoia. Dieser Brief ist vom 10. Juli 1766.
In dem nun folgenden Lebensabschnitt, welcher im vorliegenden Buch als „Ausbildung des Irrsinns" zusammengefaßt ist, entstanden der zweite Theil der „Bekenntnisse", und jene „Gespräche", die unerachtet aller ihrer Vorzüge „für den ärztlichen Leser keines Kommentars mehr bedürfen". In Bezug auf den Tod von Rousseau hält vr. Möbius den Selbstmord für unwahrscheinlich. „Die Epikrise," so schließt er, „kann kurz sein, denn Rousseau's Irrsinn verursacht keine diagnostischen Schwierigkeiten. Derselbe entspricht vielmehr so vollkommen dem Krankheitsbilde, welches als kombinatorischer Verfolgungswahn bezeichnet wird, daß es für diese Form der Paranoia geradezu als Beispiel dienen kann." Soweit der Arzt und seine wohlmeinende, interessante Schilderung.
An einer anderen Stelle (S. 101) bemerkt er übrigens, daß Rousseau's Fall geeignet fei, „die relative Berechtigung der alten Anschauung von der Monomanie dar- zuthun, nach welcher ein Stück des geistigen Menschen krank, alles Uebrige gesund sein kann." Und S. 96 sagt er: „Dem Wahn liegen Veränderungen im Gehirn zu Grunde, welche durch die unserem bewußten Seelenleben entsprechenden Vorgänge nicht allein verursacht sind." blicht allein? Da, wo die Wissenschaft des Arztes nicht weiter vorzudringen vermag, „aus der Tiefe des Unbewußten, wohin unsere Psychologie nicht reicht" (S. 96), setzt die Ethik ein und fragt, ob der Mensch an gewissen Seelenzuständen nicht mit verantwortlich sei, die „als Hauptformen des Wahns aus dieser Tiefe heraufsteigen". Die allbekannten und vermessenen Worte, welche die „koukssZions"