Laimliemioti: über I. M. N. Lenz.
Zu der Genauigkeit, mit welcher Jacob Michael Reinhold Lenz' Straßburger und Weimarer Geschicke durchforscht worden sind, steht der Mangel an ausführlichen Nachrichten über erste und letzte Lebensjahre des unglücklichen Dichters in auffälligem Gegensatz. Es erscheint das um so merkwürdiger, als der Freund Goethe's einer angesehenen Gelehrtenfamilie und einem Lande angehörte, das seinen hervorragenderen Söhnen stets besondere Aufmerksamkeit zugewendet hat, und als zur Zeit, da die deutsche Lenz-Forschung begann, mehrere seiner nächsten Verwandten noch am Leben waren. Des Dichters jüngste Schwester, die Propstin Pegau, verstarb erst zu Anfang der vierziger Jahre, Söhne und Töchter seiner Geschwister haben bis in die siebziger Jahre unseres Jahrhunderts gelebt, einheimische Lenz-Forscher wie Dumpf, Jägor von Sivens u. A. nicht versäumt, diese Ueberlebenden zu Rathe zu ziehen. Nichts desto weniger sind in Betracht kommende Auskünfte über Lenz' Jugendleben niemals erlangt worden: über den Vater, einen älteren Bruder und zwei schriftstellerisch bekannt gewordene Neffen von Goethe's Jugendfreunde hat das wegen seiner Gründlichkeit bekannte „Schriftsteller- und Gelehrten - Lexikon der Provinzen Liv-, Est- und Kurland" (von I. F. v. Recke und K. E. Napinzsky, Mitau 1831) sogar ausführlichere Berichte veröffentlicht, als über den berühmtesten oder allein berühmten Träger dieses Namens.
Die Lösung dieses anscheinenden Räthsels ist eine ziemlich einfache. Weil der Vater des Dichters ein in seiner Weise hervorragender Mann gewesen war, und weil der unglückliche Jacob (wie er in der Familie hieß) diesem Vater sein Leben lang Sorge und Kummer bereitet hatte, wurde sein Name von Denen, die ihm im Leben am nächsten gestanden, nur ungern genannt. Auf Grund alter Familientradition kann darüber das Folgende bemerkt werden:
Jacob Michael Reinhold's Vater, der im Jahre 1720 zu Cöslin in Pommern geborene Kupferschmiedssohn Christian David Lenz, war zehn Jahre vor der Geburt seines berühmten Sohnes als „Informator adliger Jugend", d. h. als Hauslehrer der Familie von Oettingen nach Livland gekommen, und in dieser seiner zweiten Heimath rasch zu hohen und verdienten Ehren gelangt. Zwei Jahre nach seiner Uebersiedelung war er Inhaber der ansehnlichen Pfarre zu Serben, 1759 Pastor zu Serben, in der Folge Propst, dann Prediger zu Dorpat (der zweiten Stadt des Landes), und schließlich General-Superintendent und Vicepräfident des livländischen Oberconsistoriums geworden; an dem Tage seines fünfzigjährigen Amtsjubiläums (24. Juni 1792) feierte er zugleich das fünfundzwanzigjährige Amtsjubiläum seines ältesten Sohnes und die Amtseinführung eines Enkels. Diese äußeren Erfolge hatte der alte Herr (der Aeltervater des Schreibers dieser Zeilen) nicht nur der Treue seiner Amtsführung, sondern ungewöhnlichen Geistesgaben, erheblicher Gelehrsamkeit, insbesondere aber der Rolle zu danken gehabt, die er als letzter und bedeutendster Vertreter des Halle'schen Pietismus in Livland spielte. Von dem Feuer, das den unglücklichen Sohn verzehrte, scheint auch der Vater eine Flamme in der Brust getragen zu haben. Gemäß seinem Wahlspruch: „Ich habe