Familiennotiz über I. M. R. Lenz.
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nur eine Passion — Ihn nur Ihn", war er ein Eiferer um den Herrn im edelsten und besten Sinne des Wortes, ein begeisterter Vorkämpfer für die Sache des „reinen" Evangeliums, und als solcher leidenschaftlicher Gegner der gegen das Ende seines Lebens (gest. 1798) auch in Livland herrschend gewordenen rationalistisch aufklärerischen Richtung. Es wollte etwas bedeuten, daß der Pietist und Freund der Herrenhuter in einem Lande zum obersten Geistlichen gewählt worden, das niemals andere als hochorthodoxe General-Superintendenten gekannt, das die strengen schwedischen Kirchenordnungen des siebzehnten Jahrhunderts beibehalten und kaum ein halbes Menschenalter vor der Erwählung Herrn Christian David's (1779) die Anhänger Zinzendorffs gewaltsam aus dem Lande Vertrieben hatte. Dem Manne, der (wie behauptet wurde) die Hälfte seines Einkommens zur Unterstützung der Armuth verwendete, und der so gewaltig zu predigen gewußt, daß mehrere seiner geistlichen Reden, insbesondere „Die evangelische Buß- und Gnadenstimme in dreizehn erwecklichen Büßpredigten", und „Das schreckliche Gericht Gottes über das unglückliche Wenden an dem Bilde ehemals zerstörten Jerusalems" zu Königsberg und Leipzig in Druck gelegt worden — dem Manne, der außerdem in mehreren gelehrten Schriften „die jetzigen neuen und für Aufklärung ausgegebenen Meinungen" siegreich zu bekämpfen gewußt, hatte die hoch- und wohlgeborene Ritter- und Landschaft vor allen Mitbewerbern den Vorzug geben zu müssen gemeint. Neunzehn Jahre lang waltete er seines Amtes, und das mit so hingebendem Eifer, daß selbst die Gegner, die Aufklärer, sein Gedächtniß in hohen Ehren hielten, und daß Herders Freund, der „Neuerer" Sonntag, dem anders gesinnten Vorgänger die Verse in die Gruft ries:
„Gib seinen Eifer jedem Lehrer,
Gib seine Treue jedem Hörer
Und jedem Menschen gib sein Herz."
Daß der glaubensstarke Vertheidiger der alten Lehre und Autorität, diese Autorität dem vollen Umfange nach in seiner zahlreichen Familie zur Geltung brachte, und daß er zumal über seinen Söhnen als gestrenger und getreuer Vater und Herr waltete, verstand sich bei einem Manne seiner Zeit und Anschauung von selbst. An Früchten solche heilsamer Zucht hatte es denn auch nicht gefehlt. Des hochwürdigen Herrn Nettester, der treffliche Friedrich David, war im zweiundzwanzigsten Lebensjahre zum Pastor in Torwast, einige Jahre später zum Oberpastor und Assessor revsrsnäi Oonsistorii in Dorpat erwählt worden; den zweiten Sohn schmückte die Würde eines kaiserlichen Collegien- und Regierungsraths; ansehnliche geistliche und weltliche „Versorgungen" waren den übrigen Söhnen so wenig entgangen wie glückliche Eheschließungen den Jungfern Töchtern. Nur der Jacob hatte nicht einschlagen wollen trotz aller auf ihn verwendeten Mühe und trotz der schönen Hoffnungen, zu denen sein 1766 verfaßtes Gedicht, „Der Versöhnungstod Jesu Christi", berechtigte. Von einem Freunde der Familie, der sich selber dichterischer Gaben rühmte, dem Pastor Theodor Oldekop, war dieser „in Hexametern" gesetzte poetische Versuch des Fünfzehnjährigen im siebenten Stück des „Rigaer Gelehrten-Anzeiger" zum Abdruck gebracht und „solche seltenem Genie" alle „Aufmunterung" gewünscht worden. Ein „Genie" war der Jacob denn auch geworden, aber ein modernes, aufgeklärtes, von der Art derjenigen, die der Vater sein Lebetag bekämpft hatte. Während die Brüder sich bereits in jungen Jahren bürgerlicher Respectabilität und fester Stellungen erfreuten, hatte der Jacob die (wider den Willen des Vaters übernommene) Hosmeister- stellung niedergelegt, bevor er zu anderweitem Unterkommen gelangt war, ein unruhiges Wander- und Abenteuerleben geführt, von sich und seinen Erlebnissen nur seltene und unerfreuliche Kunde gegeben und dem Vater just in dem Jahre von dessen Erwählung zur höchsten geistlichen Würde den Kummer einer Heimkehr bereitet, um die es noch trauriger bestellt gewesen war als um diejenige des verlorenen Sohnes im Evangelium. Einem reuig und mit dem Bekenntniß des verlorenen Sohnes heimgekehrten Sünder hätte der trotz aller Strenge warmherzige Vater wohl das Herz geöffnet — dieser Sohn aber schien in das ehrbare Elternhaus nichts weiter als Schande, geistiges und