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Deutsche Rundschau.
körperliches Siechthum und dazu Hochmuth und Anspruch des „Genies" zu bringen. Auch als es in der Folge gelungen war, die Dämonen zu verscheuchen, welche den Geist des inzwischen dreißig Jahre alt gewordenen Mannes umnachtet hatten, wollte es trotz der weitreichenden Verbindungen der Familie nicht glücken, dem Berusslosen eine passende „Bedienstung" auszumitteln. Kein Verhältniß, das dem Jugendfreunde Goethes genügte — keines, dem er zu genügen vermocht hätte, kein Amt oder Aemtchen bei Land, Stadt oder Krone, das ihm gemäß gewesen wäre! Jacob war und blieb die Verlegenheit der Familie, der Nagel zum Sarge des Vaters, der seinen Namen nicht konnte sprechen hören, ohne mit bekümmertem Herzen und verdüsterter Miene an Lucas 15, V. 11—32, zu denken. Eine Weile hatte man gehofft, bei der projectirten Dorpater Universität dem Unglücklichen Unterkunst ermitteln zu können; als dieses Project aber von Jahr zu Jahr hinausgeschoben wurde, blieb nichts übrig, als zu der — in jenen Tagen nur ausnahmsweise geübten — ultima ratio Uivonorum zu greisen und den armen Jacob „in Rußland", zunächst in Petersburg und später in Moskau sein Ziel suchen zu lassen.
Weinhold's verdienstvolle neueste Publication („Gedichte von I. M. R. Lenz", Berlin 1891) hat über des Dichters ersten und zweiten Ausenthalt in St. Petersburg so ausführlich, als unter den gegebenen Verhältnissen überhaupt möglich, berichtet. Hinzuzusügen wäre höchstens, das an dem zwischen Lenz und Klinger ausgebrochenen Mißverhältniß Beide in gleichem Maße Schuld gewesen sein mögen, lieber Klinger's Schroffheit, Unliebenswürdigkeit und Hochmuth haben deutsche und russische Genossen seiner Petersburger Zeit wesentlich übereinstimmende Urtheile gesällt. Den Russen galt der Mann, der (angeblich) nur eine russische Phrase („man soll ihn einstecken") gelernt und gebraucht hat, sür einen Typus deutscher Grobheit. — Rücksichtlich des von Weinhold (a. a. O. S. 324) als Korrespondenten des Dichters erwähnten Pastors Dingelstedt darf noch bemerkt werden, daß dieser in seiner Weise verdienstvolle Mann der von Lenz dem Vater bekämpften Ausklärungspartei angehörte und allem Anschein nach dessen Mitbewerber um die General-Superintendentur gewesen war — Umstände, die für das zwischen Vater und Sohn bestehende Verhältniß in Betracht kommen dürsten. — Beiläufig bemerkt, ist die Ehe der in der Folge berühmt gewordenen Julie Barbara Krüdener durch Dingelstedt eingesegnet worden.
lieber die spärlichen und unzusammenhängenden Notizen und Auszeichnungen, welche aus Lenz' besten Lebensjahren erhalten geblieben sind, hat W. von Bock in seiner Abhandlung „Die Historie von der Universität Dorpat und deren Geschichte" (Baltische Monatsschrift, Bd. IX, Hest 6, Juni 1864) ziemlich ausführlich berichtet. Nach etwa zweijährigem Ausenthalt an der Newa (1780 und 1781) ging der ruhelose Dichter nach Moskau, wo er mit dem bekannten Karamsin in Beziehung getreten und eine Weile als Lehrer bei der Erziehungsanstalt einer Frau Exter thätig gewesen sein soll. Mit dem Vater blieb er in Briefwechsel; daß er mit der Familie unheilbar zerfallen war, geht schon aus dem letzten, zehn Tage vor seinem Tode geschriebenen Briese (an Herrn von Sternhielm) deutlich hervor:
„Es ist schwierig, mit meinen Geschwistern Briefwechsel zu führen, denn da ein Professor in Göttingen mir die Ehre erwiesen, mich mit dem Romanschreiber — der aber in anderen Aemtern dabei steht — Herrn Goethe in eine Liste zu setzen, so suchen und finden sie in meinen Briefen nichts Anderes als unverständliche Worte, Poesie und Roman."
Das stimmt vollständig mit der Familientradition, nach welcher der Dichter („dessen ganze Phantasie, wenn sie noch eines gesunden Ausflackerns fähig werden konnte, sich in dem Ausruf zusammendrängte: Wär' die Moskowa doch der Rhein") sür seine Angehörigen todt war, noch bevor der Tod ihn von den Leiden des Lebens erlöste. Der Vater hat den Sohn, der den Kummer und die Nachtseite seiner Existenz bildete, um sechs Jahre überlebt, von den Geschwistern sind einzelne (u. A- die erwähnte Propstin Pegau und Frau Moritz) Genossen des heute lebenden Geschlechtes gewesen. Die in hohem Alter verstorbenen Enkel des General-Superintendenten pflegten oft, gern und mit vieler Lebhaftigkeit von alten Zeiten und vergangenen Menschen zu