Literarische Notizen.
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Heinrich Zimmer hat den dritten Band seines Werkes: „Luther als Klassiker" in besonderer Ausgabe erscheinen lassen, um dem deutschen Volke die Möglichkeit zu bieten, von Luther zu lernen und ihn „weniger zu erheben, aber fleißiger zu lesen." Nun ist Luther, Gott Lob, den breiten Schichten des evangelischen Volks nicht bloß dem Namen nach bekannt; er ist heute noch für sie der Schriftsteller schlechtweg, dessen Bibelübersetzung und dessen Katechismus ihnen in Fleisch und Blut übergehen. Weit mehr thut es den Gebildeten, bei welchen so viel andere Einflüsse sich geltend machen, wirklich Noth, daß sie Luther weniger loben, aber mehr kennen lernen; denn wie wenig grade von diesen Kreisen Luther selbst gekannt wird, wie vielfach er hier nur in dem Lichte gesehen wird, in das ihn befreundete oder feindliche Parteien rücken, das beweist u. a. die Thatsache, daß man in den „gebildeten" Kreisen nicht einmal weiß, daß für Luther der vielberufene Glaube, der allein gerecht vor Gott macht, nicht der blinde Buchstabenglaube an die Wahrheit der oder jener Dogmen war, von welchem die „Orthodoxen" allein wissen, sondern das schlichte, kindliche, unerschütterliche Vertrauen auf die Barmherzigkeit Gottes. Indem man das nicht mehr weiß, hat man auch das Verständnis für das Wesen der Reformation verloren. Wie unendlich viel religiöses und sittliches Leben könnte da, wo es verdorrt ist, in den „Gebildeten" unseres Volkes, wieder erweckt, und wie viel von dem, was heute der atheistische Umsturz bedroht, gerettet werden, wenn man Luther's inneres Leben und Wesen erkennen und in sich aufnehmen wollte! In manchem Betracht ist die Zeit vielleicht doch dazu angethan, daß man in dieser Hinsicht etwas hoffen darf; wenigstens wird es, wenn jetzt keine Aufraffung eintritt, auf lange hinaus zu spät sein. In dieser Hinsicht nun begrüßen wir das Zimmer'sche Buch mit Freuden. Es bietet sauf 436 S.) eine Auswahl von solchen Schriften Luther's dar, welche im höchsten Sinne erzieherisch wirken können, und so füllt es eine klaffende Lücke aus. Von der Benutzung des Gebotenen durch die Leser, an welche das Buch sich wendet, hängt ein gutes Stück unserer Zukunft ab.
Aus meiner Jugendzeit. Von Heinrich
Hansjakob. Zweite Auflage. Heidelberg,
Georg Weiß. 1890.
Einer der bekanntesten badischen Kleriker und Politiker entwirft hier gemüth- und poesievolle Schilderungen seiner Jugendzeit, welche sich zwischen 1840 und 1850 in dem Städtchen Haslach an der Kinzig abspielte, und der Tannenduft des Schwarzwaldes durchzieht die Blätter dieses Buches vom ersten bis zum letzten. Hansjakob gehört jedenfalls zu denjenigen Ultramontanen, welche die Heimath diesseits der Berge nicht aus ihren Herzen verbannt haben, sondern mit inniger und warmer Liebe an derselben hängen; er ist eine kernige Natur, welche auch diejenigen anmuthet, die, wie er scherzend von den „Patriciern" Haslach's sagt, „es so weit gebracht haben, daß sie um
kein Geld nach Canossa gingen". Die urwüchsige Auffassung des Lebens, welche an aller modernen „Bildung" nur die Schattenseite sieht und über die „Schulmeister" des Jahrhunderts sehr ungehalten ist, tritt mit solcher Herzlichkeit vereint uns) entgegen, daß man ihr nicht zürnen mag und auch in ihr das Körnchen Wahrheit anerkennt. Einmal verwandelt sich der harmlose Autobiograph in den Chronisten: ein Kapitel ist der Schilderung der Revolution von 1849 gewidmet, und überaus anschaulich weiß Hansjakob die Wirkung zu schildern, welche damals die Geister ergriff und selbst Jungfrauen so weit brachte, „daß sie umherschlichen, den Dolch im Gewände, und schwuren, nur einen solchen zu heirathen, der für die Freiheit die Waffen getragen habe" (S. 240). Der Anmarsch der Preußen machte dem Spuk in Haslach ein Ende, Hansjakob und seine Kameraden versteckten ihre Heckerhüte, als sie der preußischen Gewehrläufe ansichtig wurden, und wer noch freiheitliche Expectorationen aus dem Gewissen fühlte, verduftete. Charakteristisch ist, daß schon dem Knaben die Mannszucht der Preußen im Gegensatz zum Gebühren des Sigel'schen Freiheitsheeres imponirte und daß Hansjakob aus den Erfahrungen jenes Jahres es herleitet, daß die Demokratie bis heute im badischen Volke „ohne jede neue Wurzel geblieben ist".
/. Das höhere Schulwesen im Auslande
während der letzten zwanzig Jahre. Von
vr. W. Krumme, Direktor. Braunschweig,
Otto Salle. 1890.
Ein Mitglied des Vereins für Schulreform unterzieht hier die Entwicklung des Schulwesens „im Auslande", das will sagen, in den skandinavischen Staaten, zwei Kantonen der Schweiz (Genf und Bern) und Ungarn einer- geschichtlichen Betrachtung, aus welcher sich ergibt, daß in den genannten Staaten die Ziele des deutschen Schulreformvereins im Wesentlichen gebilligt und sogar durchgeführt sind. Mit Genugthuung wird die Thatsache verzeichnet, daß in Schweden, Bern und Genf — gnota pars innnüi! — die Kenntniß des Griechischen ohne jeden (!) Einfluß auf dis Berechtigungen ist, während in Norwegen und Dänemark die Kenntniß des Griechischen nur noch von den künftigen Theologen und Altphilologen verlangt wird. Darnach scheinen in Schweden, Bern und Gens sogar diese beiden Berufsklassen des Griechischen nicht mehr zu bedürfen, was in der That der Höhepunkt der Vorurtheilslosigkeit sein dürfte. Das Schriftchen Krumme's ist in seiner Art gewiß lehrreich; sachlich dürfte es Angesichts der Ergebnisse der Schulkonferenzen Preußens, bald auch Württembergs und Bayerns, vorerst von keiner Bedeutung mehr sein: diese Ergebnisse kommen gewissen Gedanken der Schulresormer, so dem gemeinsamen Unterbau für die nach oben sich spaltenden Schulen, einigermaßen entgegen, indem der Anfang des Griechischen in Untertertia verlegt wird, verhalten sich aber zu anderen Forderungen der genannten Richtung entschieden ablehnend.