Heft 
(1891) 67
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Die Wechselbeziehungen der Organismen.

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sind es, die unrichtiger Weise als Rennthiermoos bezeichnet werden. Sie ge­deihen selbst auf einem Boden, der, das ganze Jahr hindurch gefroren, im Hochsommer auf wenige Zoll nur aufthaut. In unseren Breiten, wo die Flechten die Concurrenz mit der übrigen, fo weit üppigeren Vegetation zu be­stehen haben, werden sie auf einen bescheideneren Platz verdrängt. Sie sind die Proletarier unter den Pflanzen, müssen sich mit schlechter Nahrung begnügen und oft am Hungertuche nagen. Zum Glück hilft ihnen eine gute Constitution über schwere Zeiten hinweg; sie trocknen eben einfach aus und warten, leblos und erstarrt, der besseren Zeiten. Um wie viel leichter wäre die sociale Frage zu lösen, wenn diese vorzügliche Eigenschaft allen lebenden Wesen gemeinsam zu­käme! Ein einziger Regen, und alle Flechten haben sich erholt. Zuvor hart und brüchig, sind sie jetzt wieder geschmeidig und biegsam geworden; zuvor miß- sarbig und unscheinbar, tragen sie jetzt wieder lebhaftere Färbung, ja sogar eine gewisse bescheidene Schönheit zur Schau. Die stiefmütterliche Behandlung, die ihnen in der Natur zu Theil wird, hat nicht einmal ihren Charakter verdorben; es gibt keine einzige giftige Art unter denselben. Dabei leisten die Flechten unverdrossen eine schwere Arbeit. Sie bereiten den Boden vor, auf welchem später bevorzugtere, anspruchsvollere Gewächse Fuß fassen sollen. Auf unfrucht­barer Bodenfläche, einem gestürzten Felsen, dem Block, der kürzlich einem Stein­bruch entnommen wurde, setzen sie sich fest. Mit feinen Fäden miniren sie ihre Unterlage, lösen einzelne Bestandtheile derselben auf und lockern das Gestein. Die Kohlensäure, die sie ausscheiden, greift, im Wasser gelöst, die Kieselsäure an, wirkt auf den im Granit, Gneis, Glimmerschiefer vertretenen Feldspath zer­setzend ein, und ruft so die Verwitterung des Gesteins hervor. Abgestorbene Flechtenreste und der desorganisirte Felsen bilden eine Unterlage, auf welcher Moose sich ansiedeln können. Diese machen weiter Platz den mit Wurzeln ver­sehenen Pflanzen. So sind die Flechten die Pioniere der Arbeit, welche immer neuen Boden für die Pflanzenwelt erobern. Halten sich die Flechten hoch oben in den Bergen und in dem eisigen Norden nur an den Boden und an Steine, so bewohnen sie bei uns auch die Oberfläche der Baumrinden. In den Tropen findet man fast ausschließlich nur rindenbewohnende Formen; doch ist die Zahl der Arten dort überhaupt gering zu nennen. Dort, wo der Tisch der Natur am reichsten gedeckt ist, fehlt es an Platz für sie. An unseren Bäumen bevorzugen die Flechten die Wetterseite, so daß der Kundige im Walde sich nach den Flechten- und Moosüberzügen richten kann, um die Himmelsgegend zu be­stimmen. Das Aussehen der Flechten ist Jedem bekannt, wenn er sie auch Wohl als Moose öfters bezeichnet haben mag. Flechten sind es, die als flache, graue, gelbe und grünliche Scheiben den Steinen aufsitzen, alte Denkmäler decken, auch Wohl aus Glasscheiben wachsen, die man ein halbes Jahrhundert lang zu reinigen vergaß. Flechten hängen als feine, graue Fäden in Wäldern von den Aesten, namentlich der Lärchenbäume, herab, und der Rübezahl im Riesengebirge erhält aus denselben einen stattlichen, grünlich-grauen Bart. Dort, wie in manchen anderen Gebirgsgegenden Deutschlands, wird dem Wanderer auch die zierliche Llaäonia eoeeitora, die Scharlachslechte, als Trompeter- oder Korallenmoos, zum Kauf angeboten.