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Deutsche Rundschau.
tracht der Regierenden! Ihr Mangel an Achtung vor dem Gesetz, ihre Gesetzlosigkeit! Moralität nach Grundsätzen ist allerdings weit seltener in Frankreich als in Deutschland. Aber die Majorität im Directorium besteht aus entschieden ehrlichen Männern. Die einzige Gerechtigkeit, die man ihnen schuldet, ist, sie nicht zu richten vor dem Frieden. Bricht ihre Uneinigkeit, wenn sie ja existirt, in gewaltsame Handlungen aus, nun dann an den Ontariosee! Folglich um den Zustand der Nation zu beurtheilen, müssen wir die Wahlen, um den Geist der Regierung, den Frieden, um den Charakter der Regierenden, ihr Betragen unter sich selbst abwarten."
Bis nach den nächsten Wahlen also, bis nach hergestelltem Frieden, bittet Reinhard das Urtheil über den Zustand Frankreichs und über die Politik seiner Machthaber zu verschieben — noch ist Krieg, und daran, was im Kriege geschieht, darf man nicht den Maßstab der Moralität anlegen. Diese Leichtigkeit in der sittlichen Beurtheilung von Menschen und Ereignissen, diese Bereitwilligkeit, Alles zu verzeihen, weil zuletzt Gutes daraus hervorgehen wird — Alles zu entschuldigen, weil um höherer Zwecke willen oder aus Nothwehr nicht anders gehandelt werden konnte, — diesen Optimismus, der unter allen Umständen entschlossen ist, Recht zu behalten, kann der gerade Oheim unmöglich theilen. Ihm sind die Hoffnungen aus die Revolution zerstört. „Ich habe," bemerkt er sein, „das verlorene. Sie haben das wiederzugewinnende Paradies vor Augen. Milton War in jenem glücklicher als in diesem, möge das hier nicht der Fall sein!" Reinhard kann doch an dem Gedanken nicht Vorbeigehen, daß vielleicht alle Hoffnung fehlschlagen werde; in diesem Falle will er verzweifelnd — an den Ontariosee, wie er jenes Gedicht auf den Geburtstag des Vaters Reimarus mit den Worten geschlossen hatte:
Und ich will in Jrokesenhainen,
Wenn auch ihm die große Hoffnung log,
An des Weibes treuem Busen weinen,
Das mir seine Hand erzog.
So wenig noch hatte der Diplomat den empfindsamen Rousseauschwärmer ausgezogen! Wie viel nüchterner und treffender ist das Urtheil des Oheims über die wirkliche Lage der Dinge; schon am 14. December hatte er geschrieben: „Mich sollt' es nicht Wundern, wenn Bonaparte zuletzt gezwungen würde, wie Cäsar über den Rubicon nach Frankreich zurückzukehren!"
Am 19. Februar übergab Reinhard dem Senat sein Abberufungsschreiben. Drei Tage später sandte Hennings seine letzten Abschiedsgrüße.
„Nach meiner Schwester Brief, den ich gestern empfangen, werden Sie übermorgen abreifen. Bei dieser Trennung vergeh' ich den Weltbürger und kann nur als Freund dem Freunde das beste Lebewohl in hiesiger Gegend zurufen. Nicht Ihnen, sondern der guten Sache der Menschheit wünsche ich es, und zu Frankreichs Bestem habe ich die Hoffnung, daß der wichtigere Theil des Staatsruders in die Hände von Männern kommen möge, die Ihnen gleichen. Die alten Gallier sind wieder aufgestanden; sie haben, wie die ehemaligen, währe Franken nöthig, um eine bürgerliche Nation aus ihnen zu machen .. . Ich rede heute nicht von Politik, ich fühle mich nur Ihnen einverstanden, und nichts kann dieses Gefühl stören, das mir tausendmal werther ist als die unvermeidlichen Verschiedenheiten des Anschauens, die aus dem Standpunkt herrühren, auf dem wir stehen. Das moralische Sehen hat seine Optik wie das physische, es liegt nicht in den Sehorganen und wirkt doch auf sie."
Schonend deutete Hennings dem jüngeren Freunde gegenüber, den er persönlich liebgewonnen hatte, und der besser war als seine Grundsätze, die Verschiedenheit ihres Standpunkts an. Der Abstand War in Wirklichkeit größer.