Heft 
(1891) 67
Seite
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Aristoteles und seine neuentdeckte Schrift von der Staatsverfassung der Athener. 223

thums bekannt geworden, welche die eben jetzt zu Tage getretene reiche Erzader dereinst sorgsam ausgebeutet hatten.

Ganz anders steht es mit dem ersten oder historischen Theile. Aus diesem ersehen wir mit Ueberraschung, daß die Fortbildung der athenischen Verfassung einen weit höheren Grad von Continuität ausweist, daß sie weit mehr die Merkmale stetiger organischer Entwicklung besitzt, als wir es bisher zu ahnen vermochten. Es ist eine historisch-politische Einsicht von allerhöchstem Werthe, die uns hier Aristoteles vermittelt. Die Größe Athens war kurzlebig genug; aber sie wäre dies können wir mit voller Zuversicht behaupten gewiß noch weit kurzlebiger gewesen, wenn die Dinge sich in Wahrheit so zugetragen hätten, wie ein Plutarch sie uns schildert; wenn dort, wo wir jetzt organischen Naturwuchs erkennen und bewundern. Alles so sprunghast, so unvermittelt, so unhistorisch sich vollzogen hätte. Angesichts dieses^ fundamentalen Wandels, den nunmehr unsere Anschauung von dem Gange des athenischen Verfassungslebens erfährt, fühlt man sich fast versucht, typische Gesetze des historischen Vergessens und Entstellens zu sormuliren. Drei derartige Gesetze treten uns hier freilich nicht zum ersten Male, aber mit einer wahrhaft erschreckenden Deutlichkeit wie Wohl niemals zuvor entgegen. Große Vorgänger verschwinden gänzlich oder nahezu im Schatten größerer Nachfolger. Eine lange Entwicklungsreihe besitzt die Neigung, sich in einen Punkt zusammenzudrängen und in der Hand oberfläch­licher und effecthaschender Schriftsteller sich zu einem Theatercoup oder einer Staatsaction zu verdichten. Das Schlimmste aber hat ein Zickzackgang der Entwicklung von der nicht mit sorglicher und gewissenhafter Treue gehüteten Ueberlieferung zu befahren. Denn diese liebt es gar oft, die Rolle eines kunst­reichen Ingenieurs zu spielen. Sie regelt den Strom eines geschichtlichen Ver­laufes. Sie läßt uns dort schnurgerade Linien erblicken, wo in Wahrheit windungs­reiche Krümmungen vorhanden waren. Reichliche Belege für das Walten dieser gefchichtsfälfchenden Tendenzen wird uns ein Ueberblick über die wichtigsten Wandlungen liefern, welche das Verfafsungswesen Athens im Laufe der Zeiten erfahren hat.

Sogleich das Ende der Königsherrfchaft erscheint uns jetzt in völlig ver­ändertem Lichte. Nach dem Tode des Kodros so hieß es bislang ist das Königthum frischweg abgeschafft und die oberste Gewalt einem, Archon genannten, Beamten übertragen worden, der gleich seinen Nachfolgern dem Königshause an­gehörte und dessen Würde eine lebenslängliche war. So wurde der Ursprung des Archontats, der späteren jährigen Herrschaft von neun Archonten, erklärt. Diese Darstellung war Wohl geeignet, Bedenken zu Wecken, und hat dieselben in der That wachgerufen. Vor genau zwanzig Jahren hat ein seither verstorbener deutsch-russischer Gelehrter, Karl Lugebil verwunderlicher Weise zum ersten Male die Frage aufgeworfen:Wodurch unterschied sich denn ein lebens­längliches Staatsoberhaupt aus königlichem Geschlecht von einem wirklichen König?" Die Antwort lautete:Durch seine Verantwortlichkeit." Allein wie ließ sich die strenge Verantwortlichkeit eines Herrschers mit der lebenslangen Dauer seiner Herrschaft vereinigen? Bloße verfassungsmäßige Einschränkungen hat gar manches Königshaus erfahren, ohne daß darum die monarchische Würde