Aristoteles und seine neuentdeckte Schrift von der Staatsverfaffung der Athener. 225
aller politisch Berechtigten hat es, wie die homerischen Gedichte zeigen, selbst zur Zeit der Königsherrschaft nicht gefehlt, und der Kreis derselben schloß auch unter Dralon nur die „Waffenkragenden" in sich, d. h. die Reiter und die Schwer- bewaffneten, was in jenem Zeitalter nur die Wohlhabenden waren. Weit mehr besagt die einschneidende Schmälerung, welche die Macht des Areopags durch eben diesen Gesetzgeber erfuhr. Es war dies die älteste und bis dahin die einzige politische Körperschaft gewesen; ihre Befugnisse waren nahezu unbegrenzt. Sie war die oberste Verwaltungsbehörde; sie bestellte und entsetzte alle oder nahezu alle Beamten; sie verhängte Strafen und Bußen, ohne an ein geschriebenes Gesetz gebunden zu sein. Schon Drakon's Codification des Strafgesetzes mußte eine ihre Machtsülle einschränkende Wirkung üben; in weit höherem Maße that dies die Schaffung des Senates, jenes Rathes der Vierhundert, die unsere bisherige Ueberlieferung dem Solon zuschrieb. So hat denn Drakon die ersten Schritte aus der Bahn gethan, welche schließlich zur politischen Annulli- rung des Areopags und zur reinen Volksherrschaft führte; aber freilich nur die ersten Schritte. Denn die Bekleidung bedeutender Staatsämter war an einen hohen, zum Theil erstaunlich hohen Census geknüpft. Die Besitzlosen entbehrten auch fortan des activen Wahlrechts, und selbst die Art, in welcher das Loos bei Besetzung der Rathsstellen und der niedrigen Aemter in Anwendung kam, zeugt, so seltsam dies auch klingen mag, mehr für als gegen den aristokratischen Charakter des damaligen Staatswesens. Ich denke an das Verbot, daß Einer zweimal zu demselben Amt erloost werde, „ehe Alle daran gekommen sind". Setzt doch diese Bestimmung augenscheinlich einen noch engen Kreis von Aemtersähigen H voraus; mit anderen Worten, da die sämmtlichen Mitglieder der drei oberen von den vier (wieder nicht erst von Solon geschaffenen!) Schatzungsclassen gemeint sind, eine noch geringe Ausbreitung des Wohlstandes. Und wie sollte dies anders sein? Befand sich doch das Land, wie Aristoteles in einem inhaltsschweren Satze bemerkt, „in den Händen Weniger", und die Masse der Bürger war, dank dem harten Adelsregiment und dem grausamen Schuldrecht eines rohen Zeitalters, in Leibeigenschaft gerathen, ja sogar zum Theil in die Fremde verkauft worden.
An diese tiefen und dem Anschein nach unheilbaren wirthschaftlichen Schäden hatte Drakon nicht gerührt. Die schwere Noth der Zeit fand ihren Meister in Solon, aus dessen liebenswerthe und verehrungswürdige Gestalt hier wieder einige neue Lichtstrahlen fallen durch die Mittheilung mehrerer bisher unbekannter, seinen Politischen Dichtungen entnommener Verse. Durch das Vertrauen aller Parteien, die sich eben noch in blutigen Kämpfen befehdet hatten, zur zeitweiligen Staatsleitung berufen und mit den weitestgehenden Vollmachten ausgestattet, begriff
*) So kommt ein Wort des trefflichen alten Schoemann wieder zu Ehren: „Ja. es ist nicht unwahrscheinlich, daß gerade in den älteren Zeiten diese Besetzungsart am meisten beliebt gewesen sei, und zwar eben in den Oligarchien um so mehr, je mehr in dem engeren Kreise der Berechtigten jeder Einzelne Anspruch machte, für gleich befähigt zu gelten." (Griechische Alterthümer, Bd. 12 , S. 1ö4.) Auf diesen wie ans verwandte Gesichtspunkte, vornehmlich darauf, daß die Erloosung sich ursprünglich durch den Spielraum empfahl, den sie dem Zufall, d- h. nach antiker Auffassung göttlicher Dazwischenkunft gewährte, hat längst eine Reihe bedeutender Gelehrte, so wieder Karl Lugebil, Fustel de Coulanges, Müller-Strübing und Georges Perrot hingewiesen.
Deutschs Rundschau. XVII, 8. 15