Heft 
(1891) 67
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Aristoteles und seine neuentdeckte Schrift von der Staatsverfassung der Athener. 227

und Vagabondage), mag in Wirklichkeit dem Letzteren angehören. Allein so groß auch Solon's Verdienste auf dem Felde der Civil- und der Strafgesetzgebung gewesen sein mögen, seine Rolle als die eines politischen Reformators büßt jeden­falls viel von ihrem Glanze ein, ohne darum doch erheblicher Tragweite zu ent­behren. Den vier Schatzungsclassen, die er Vorsand, hat er die Rechte und Pflichten der Bürger angepaßt. Letzteres mittelst einer weise und maßvoll ab- gestusten (nur im Bedarfsfall zu erhebenden) Vermögenssteuer, ersteres durch eine sorglich bemessene Verkeilung staatlicher Befugnisse. Die Amtsfühigkeit verblieb auch fortan nur den Besitzenden, der Zutritt zu den wichtigsten Aemtern sogar nur den Angehörigen der obersten Schatzungsclasse. Den Mitgliedern der untersten Classe. denLohnarbeitern" (Theten), ward das active Wahlrecht, der Antheil an der Volksversammlung und an den Volksgerichten eingeräumt, an welche letzteren auch eine Berufung gegen behördliche Verfügungen ergehen konnte. Dies war eine überaus folgenreiche Neuerung, Wohl dazu angethan, den Schwerpunkt der Macht mehr und mehr zu Gunsten der Masse zu verrücken. Doch zunächst blieb immer noch der Areopagder Anker des Staates". Ihm eignete neben dem Blutbann die Oberaufsicht über den Vollzug der Gesetze und die Aburtheilung von Staatsverbrechern. Die Zusammensetzung dieses hohen Rathes war dieselbe wie vordem und nachher. Alle Archonten, die ihr Amt mit Ehren verwaltet hatten, wurden in seinen Schoß ausgenommen. Allein eben die Bestellungs­weise der Archonten erlitt jetzt eine nicht wenig denkwürdige Umgestaltung.

Die Bedingungen der oligarchischen Erloosung waren nicht mehr, die der demokratischen noch nicht vorhanden. So lange und so weit der Kreis der Aemterfähigen und der überhaupt politisch Berechtigten nicht zusammenfiel, war die Erwählung, nicht die Erloosung der Beamten das durch die Natur der Sache vorgezeichnete Verfahren. Konnten doch nur so die zahlreichen Minderberechtigten aus den wenigen Meistberechtigten eine ihren Interessen zusagende Auswahl treffen. Da ist es denn für die Stetigkeit athenischer Verfassungsentwicklung gar sehr bezeichnend, daß Solon die Wahl der Archonten wenigstens noch immer in die Form der Loosung gekleidet hat. Aus vierzig nominirten Candidaten wurden die neun Archonten durch das Loos erkoren. Diese unseres Wissens völlig beispiellose Vereinigung der beiden Methoden mochte sich freilich auch als eine Schutzwehr gegen Bestechung und Einschüchterung empfehlen ein Schutz, dessen die soeben erst aus dem Bann der Hörigkeit erlösten Massen nur schwer entrathen konnten. Allein, daß diese Rücksicht nicht die einzige und kaum die entscheidende war, dies lehrt uns eine andere noch weit merkwürdigere Thatsache. Als in einer späteren Epoche die Erwählung der Archonten endgültig der Erloosung Platz gemacht hatte, da wurde jene Doppelstufigkeit des Processes (eine zweite Erloosung, die aus dem Ergebnisse der ersten eine Auslese traf) als ein Rest oder Rudiment jener alten Verfahrungsweise beibehalten. So sehr liebte man es in Athen nicht minder als in Rom oder in England, den Faden der Tradition nicht ohne Noth abzureißen und den neuen Wein in alte Schläuche zu füllen. Fürwahr, die französischen Revolutionsmänner waren nicht wohl berathen, wenn sie sich auf das Vorbild antiker Freistaaten zu berufen pflegten. Die athenischen Staatsmänner der besseren Zeit zum Mindesten glichen weit mehr