Heft 
(1891) 67
Seite
229
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Aristoteles und seine neuentdeckte Schrift von der Staatsverfassung der Athener. 229

Dies hieß den Antagonismus der Alt- und Neubürger verewigen, wenn nicht gar den Bürgerkrieg vorbereiten. Kleisthenes griff zu einem ebenso kühnen als weisen Auskunftsmittel. Er schaffte die alten Phylen ab und ersetzte sie durch neue. Das nationale Heiligthum von Delphi, dessen Interessen Kleisthenes zu fördern verstanden hatte, versagte nicht seine Mitwirkung an dieser radicalen Neuerung. Das Orakel nannte die Namen von hundert Heroen oder Halb­göttern, aus welchen das Loos zehn als Schutzpatrone der neuen Stämme auslas. Man beachte hier nebenbei den überraschenden Parallelismus dieses Verfahrens mit der solonischen Methode der Archontenbestellung. Der schwierigste Theil des Problems war jedoch noch zu lösen. Welches Band sollte die neuen Phhlen- genossen vereinigen und zusammenhaltend Es konnte nicht das Band der ge­meinsamen, wirklichen oder vermeintlichen, Abstammung sein. Denn auch die Brüderschaften und die Geschlechter umzumodeln solche ein Eingriff in das intimste Leben des Volkes Wäre nicht mehr kühn, er wäre waghalsig gewesen. Der ebenso kluge als muthige Reformator erstreckte die Neuerung nur genau so weit, als die unbedingte Nothwendigkeit es erheischte.

Er ließ jenen ganzen altehrwürdigen Unterbau der vier Stämme unversehrt bestehen und stellte nur die neuen Stämme auf eine völlig verschiedene Grund­lage. Das Geschlechts- oder Gentilprincip ward durch das örtliche oder terri­toriale ersetzt. Die Angehörigen von je einer Anzahl von Gauen (Demen) wurden zu je einem Stamme verschmolzen. Sie und ihre Nachkommen mochten die Letzteren auch ihren Wohnsitz wechseln (man beachte diese dem alten Princip erwiesene Huldigung) wurden zu neuen staatlichen und Cultgenossenschasten verbunden. Es waren dies die zehn Phylen, die Grundpfeiler, welche fortan den Vau des attischen Staatswesens trugen. Allein die Schwierigkeiten waren damit noch nicht zu Ende. Die alten Linien, welche die Bürgerschaft durch­zogen, waren überall von neuen durchkreuzt, die erbgesessene Bürgerschaft und der junge Zuwachs waren durcheinander gerüttelt und geschüttelt, ja bis zur Ununterscheidbarkeit vermengt. Aber wäre Kleisthenes hier stehen geblieben, sein Werk wäre nur zur Hälfte gethan gewesen. Indem er die eine Quelle des Un­friedens schloß, eröffnete er eine andere und kaum minder bedrohliche. Wurden die Bewohner je einer Landschaft zu einem Ganzen vereinigt, so war das Er­wachsen von Landsmannschaften oder solchen Parteien zu gewärtigen, die man neuerlich, zumal in Italien, regionale genannt hat. Die Gebirgsbewohner wären zum Streit gegen die Interessen der Meeranwohner, diese zur Fehde gegen die Insassen der fetten Ebenen organisirt und gerüstet gewesen. Daß diese Gefahr keine eingebildete war, dies hatte die jüngste Vergangenheit nur allzu deutlich gelehrt. War doch die Usurpation des Pisistratus eben aus derartigen Factions- kämpsen hervorgegangen. Er selbst hatte sich an die Spitze des armen, radical gesinnten Bergvolkes gestellt, während oligarchische Bestrebungen im sruchtreichen Flachland ihren Sitz hatten, und das handeltreibende Seevolk den Fahnen des hochadligen, aber bürgersreundlichen Megakles folgte. So hat denn Kleisthenes sein Reformwerk durch die Ausführung eines Gedankens gekrönt, dessen Genialität man niemals genug bewundern kann. Während er das Territorialprincip an die Stelle des Gentilprincips setzte, raubte er ihm zugleich seinen giftigen Stachel.