Heft 
(1891) 67
Seite
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Deutsche Rundschau.

pflege; daß man sorgfältig zu unterscheiden habe, was die Sitte befiehlt und Was sie bloß nicht hindert, daß vielfach Spuren von ursprünglich reineren Anschauungen und späterem Verfall der Sitten nachweisbar seien. Wie es sich aber auch damit verhalten möge, so glaube ich doch jedenfalls zweierlei Tat­sachen als Zeugnisse dafür anführen zu können, daß die elementarsten Wirkungen eines sittlichen Grundtriebes nie und nirgends fehlen. Wie immer die Sitte und rechtliche Ordnung des Zusammenlebens im Einzelnen beschaffen sein möge: darin, daß überhaupt eine solche besteht und noch nirgends ganz vermißt wurde, ist enthalten, daß Jeder, wer er auch sei, ein Allgemeines, dem er sich zu fügen hat, das seiner Willkür und Selbstsucht Schranken setzt, über sich gelten zu lassen hat. Es ist wenigstens die erste Forderung eines sittlichen Triebs, daß über­haupt eine Ordnung und ein Herrschendes da sei, verwirklicht. Sodann finden wir doch nie und nirgends, daß man sich Lob und Auszeichnung durch Essen und Trinken in letzterem Punkt wäre Wohl auch innerhalb der gesitteten Völker ein Vorbehalt zu machen oder durch Faullenzen, durch Feigheit, Wankelmuth, Prahlerei, Verlogenheit erringen kann, Wohl aber, daß überall Muth, Tapferkeit, Ausdauer, Verachtung von Schmerz, Geistesgegenwart, Einsicht und Wissen, Beredsamkeit hochgeschätzt wird; selbst jede körperliche Fertig­keit, wenn sie auch nur im Laufen, Klettern, Schwimmen, im Bogenschießen und Bumerangwerfen besteht, hat insofern ein sittliches Moment in sich, als sie ohne Mühe, Geduld und Selbstbeherrschung nicht erworben werden kann. Jede höhere Geistesanlage ist aber nach dem Zeugniß der Weltgeschichte darauf ange­wiesen, von der Pike auf zu dienen, sich zuerst mühsam als zarter Keim aus dem llebermaß von sinnlicher Roheit und Selbstsucht herauszuarbeiten. So wenig wir eine angeborene Empfänglichkeit für ästhetische Reize darum leugnen, weil sie ihren Weg bis zu Raphael, Mozart und Goethe mit Bemalen und Tättowiren des Körpers, mit Ringen durch Nase und Lippen, mit hundsköpfigen Göttern, mit Scheusalen von Götzenbildern beginnen mußte; so wenig wir ein allgemein menschliches Verlangen nach Erkenntniß und Wahrheit darum be­streiten, weil nichts so thöricht und unsinnig ist, daß es nicht schon gedacht worden Wäre und Zustimmung gesunden hätte; so wenig wir einem religiösen Bedürfniß des Menschengeistes darum die Anerkennung verweigern, weil es sich auch in den abstoßendsten und greulichsten Formen bethätigt hat: ebenso wenig dürfen wir uns auf die Gebräuche der Karaiben, Botokuden, Feuerländer und Australneger als Belege dafür berufen, daß zu den menschlichen Gattungsmerk­malen nicht doch auch ein sittlicher Trieb gehöre, dessen wesentliche Functionen in der formellen Forderung einer Ordnung unseres Trieblebens und in der materiellen Unterordnung der animalischen unter die humanen Triebreize be­stehen.

Wenn ich nun aber im Bisherigen nur von einem sittlichen Trieb geredet habe, während mein Thema auf das Gewissen lautet, so ist dieß, wie ich glaube, kein Abweg und kein Umweg gewesen. Jener sittliche Trieb ist nicht gleich­bedeutend mit dem Gewissen, aber er ist in ihm enthalten, mit ihm verschmolzen; er bildet dessen wichtigsten und werthvollsten Bestandtheil, die treibende und Richtung gebende Grundkrast. Aber es muß noch etwas Weiteres hinzukommen.