Ueber die Lehre vom Gewissen.
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Denn derselbe vermag nicht frei aus sich selbst heraus eine auf die Wirklichkeit anwendbare Ordnung, ein System bestimmter Normen und sittlicher Vorschriften zu erzeugen; er stellt nur allgemeine Principien, ideale Forderungen aus, die dann zu concreter Gestaltung gelangen sollen und hierzu ein Doppeltes erfordern oder voraussetzen. Einmal bietet die Wirklichkeit den einer sittlichen Ordnung bedürftigen Stoff in den allgemein menschlichen Lebensverhältnissen und Gesellschaftszuständen, wie sie theils durch physiologische, theils durch sociale That- sachen erzeugt und bedingt sind, in den leiblichen Bedürfnissen der Familie, im Erwerbs- und Verkehrsleben, im Volksthum, in den Forderungen der höheren Geisteskräfte. Sodann erfolgt die Durchdringung dieses gegebenen Stoffs mit sittlichen Ideen nur stufenweise in der Form geschichtlicher Entwicklung, von niedrigen Anfängen unter wechselnden und mannigfaltigen Bedingungen zu stetig wachsender Vertiefung. Jedes Zeitalter und Volk gibt dem gleichartigen sittlichen Grundtrieb wieder eine etwas abweichende Ausgestaltung und ordnet das menschliche Zusammenleben nach anderen Normen. Der Einzelne wächst in dem Vorstellungskreis seiner Umgebung auf, nimmt vermöge jenes angeborenen Triebs die sittlichen Begriffe derselben mit entgegenkommender Empfänglichkeit in sich aus, fügt nach Umständen individuelle, theils steigernde, theils abschwächende Zu- thaten bei. Das Ganze dieser sittlichen Vorstellungen lagert sich nun im Gewissen als das Bewußtsein bestimmter, verpflichtender Normen für unser Wollen und Handeln ab. Das Gewissen ist so der sittliche Trieb in seiner concreten Gestaltung, in seiner durch tatsächliche Momente mitbestimmten Entwicklung. Es ist eine wenigstens für die meisten Menschen unbewußte und unlösbare Einheit von Angeborenem und Erworbenem. Ich möchte es definiren als das Gefühl einer inneren Nöthigung, unser Wollen und Handeln nach dem Maßstab der von uns als verpflichtend Vorgefundenen und anerkannten Normen zu prüfen und zu richten.
Diese Auffassung, wonach das Gewissen als die Verschmelzung von zwei verschiedenen Elementen erscheint, einem Angeborenen und Erworbenen, einem Idealen und empirisch Beschränkten, einem Ewigen und Vergänglichen, kann, wie ich glaube, auch als Schlüssel dienen, um auf manche zweifelhafte oder bestrittene Fragen eine Antwort zu finden.
So fragt man, ob es ein irrendes Gewissen gebe, oder ob dessen Stimme als untrüglich zu gelten habe. Ein Jrrthum ist natürlich in doppelter Weise möglich und darum auch in der Erfahrung tausendfältig vorhanden. Es können einmal die Normen unrichtig sein, die als bindend angenommen werden; sodann kann von richtigen Normen eine unrichtige Anwendung auf die gegebenen Einzel- sälle gemacht werden. So wurde es durch Jahrhunderte und wird auch noch in die Gegenwart herein da und dort als eine bindende Gewissensnorm angesehen, abweichende Glaubensmeinnngen nicht zu dulden, sie, wenn auch nicht mehr mit Feuer und Schwert auszurotten, doch noch durch Verweigerung bürgerlicher Gleichstellung und auf andere Weise zu erschweren; hier ist die Norm eine falsche, obgleich sie unter dem Druck religiöser Voraussetzungen mit gutem Glauben angenommen sein kann. Andererseits ist die Pflicht der Wahrhaftigkeit eine richtige Norm. Wenn man aber daraus die Folgerung ableitet, daß man bei