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Deutsche Rundschau.
jedem Anlaß auszusprechen habe, was man denke, daß man Jedermann sein Urtheil über ihn ins Gesicht zu sagen, daß man im geselligen Verkehr die üblichen Höflichkeitssormen zu unterlassen habe, wo sie mit der wirklichen Gesinnung nicht übereinstimmen, so ist die Anwendung eine salsche. Im einen wie im andern Fall liegt jedoch nur ein Jrrthum des Verstandes, des sittlichen Urtheils vor, nicht des Gewissens selbst- In seiner Grundfnnction zu verlangen: Du sollst nicht Wider besseres Wissen handeln, du sollst die Normen, die du selbst als bindend erkannt hast, nicht verletzen, sowie in dem Urtheil, ob dies geschehen ist oder nicht, müssen wir das Gewissen, soweit überhaupt das Prädikat der Untrüglichkeit auf den Menschen anwendbar ist, untrüglich nennen, als den einzigen und unmittelbarsten Zeugen des inneren Vorgangs. Der Jrrthum fällt auf den Antheil des Erworbenen und Zufälligen, die Wahrheit auf den angeborenen und idealen Factor.
Das Gewissen weiß und sagt überhaupt nicht, wie im Einzelsall zu handeln sei; dies ist Sache der Einsicht und Ueberlegung. Das Gewissen begleitet diese Ueberlegung nur als Wächter darüber, ob in den gesetzten Zwecken und gebrauchten Mitteln keine Verletzung der bindenden Normen enthalten ist. Ueber die Zweckmäßigkeit selbst hat es nicht mitzusprechen; man kann die thörichtste und verfehlteste Handlung mit gutem Gewissen begehen, die vernünftigste, ja allein richtige nicht ohne vorgängige Einrede und Beunruhigung des Gewissens zu vollbringen haben.
Der Ausdruck „gutes und böses" Gewissen beruht überhaupt auf einem eigenthümlichen Sprachgebrauch. Das Gewissen ist ja niemals böse und übt seine Functionen um so vollkommener, je böser es im üblichen Sinne wird. Wie wenn man von einem bösen Zahn oder Finger spricht, heißt hier böse so viel als verletzt oder schmerzhaft, wofern man das Bösewerden nicht im Sinne von Zornig- oder Ergrimmtwerden zu deuten vorzieht. Das gute Gewissen aber ist der Regel nach nichts Positives, sondern nur die Negation des Bösen. Es ist ein Verhältniß wie zwischen Gesundheit und Krankheit: wir empfinden die Gesundheit nur als positives Gut, wenn sie gestört ist oder war, in der Genesung oder im Anblick fremder Leiden; sonst nehmen wir sie als das Normale und Selbstverständliche ohne ein besonderes Lustgefühl hin. Aehnlich haben wir das positive Gefühl eines guten Gewissens nur, wenn dessen Sieg zuvor in Frage stand und doch schließlich errungen wurde, oder gegenüber von bestimmten Vorwürfen und Anklagen, wenn sie grundlos waren. Wenn sich das Gewissen aber nicht auch aus das Institut der Verjährung und Amnestie einließe, so würde es uns niemals eine ruhige Stunde gönnen können.
Jene Unterscheidung des Angeborenen und Erworbenen, des idealen Grund triebes und seiner empirischen Ausbildungsstuse scheint mir aber auch ein Licht zu Wersen auf die sehr praktischen, ebenso wichtigen als schwierigen Fragen, ob und in welchem Sinne allen Menschen ein Gewissen beizulegen ist, ob und in welchem Sinne alle ein gleichartiges Gewissen haben. Eine Verneinung dieser Allgemeinheit und Gleichartigkeit müßte vom größten Einfluß sein aus unsere ganze Beurtheilung menschlicher Handlungen, auf den Begriff der Zurechnungsfähigkeit, aus das gesammte Institut der Strafjustiz. Wie stände es mit dieser,