Ueber die Lehre vom Gewissen.
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Wenn man die Einrede eines Angeklagten, er habe kein Gewissen oder kein solches, wie andere Menschen, beachten müßte?
Ob es Menschen ohne alle sittlichen Gefühle und Vorstellungen gibt, läßt sich nicht erfahrungsmäßig durch Beobachtung an Einzelnen entscheiden. Denn der Einblick in das Innerste eines anderen Menschen ist uns versagt. Niemand kennt auch nur sich selbst genau, am wenigsten der Ungebildete, dem schon die Ausdrücke für die Bezeichnung innerer Seelenvorgänge völlig fehlen. Auch bei den sittlich verwildertsten Naturen wird es gleich schwer sein, das völlige Fehlen wie das Vorhandensein sittlicher Regungen nachzuweisen. Wir könnten aber ebenso wenig aus diesem empirischen Wege feststellen, daß allen Menschen Fassungskraft, Urtheil, Schlußvermögen beizulegen ist, obgleich wir zum voraus außer Zweifel sind, daß derjenige überhaupt kein Mensch mehr zu nennen wäre, dem diese Merkmale völlig fehlten. Ebenso müssen wir die Fähigkeit, Gefülltes und Nichtgesolltes, Gutes und Böses zu unterscheiden, jedem Menschen als einen unfehlbaren Bestandtheil seiner Vernunftanlage zuerkennen. Der Gegensatz von Gut und Böse ist aber von allen andern conträren Begriffspaaren, wie hell und dunkel, warm und kalt, gerade und krumm, dadurch speciffsch unterschieden, daß er nicht eine bloße sinnliche oder unsinnliche Vorstellung gibt, sondern einen Appell an den Willen, das Bewußtsein eines Sollens schon mit sich führt. Die biblische Erzählung versetzt den Baum der Erkenntniß des Guten und Bösen gleich in den Garten des Paradieses und läßt Gott nach dem Sündenfall sagen: siehe, Adam ist geworden wie unser einer und weiß Was gut und böse ist. Die Strafgesetze aller Völker und Zeitalter machen den Menschen, wofern er nicht ein unmündiges Kind oder durch Krankheit in dem normalen Gebrauch seiner Geisteskräfte gehindert ist, verantwortlich für all sein Thun und setzen eben dabei die Kenntniß des Unterschieds von Recht und Unrecht voraus, ohne hierüber einen Gegenbeweis zuzulassen. Sie könnten dies unmöglich thun, wenn die sittlichen Gebote, wie die Utilitarier und Materialisten sagen, keine angeborene Wurzel im Menschengeist hätten, sondern bloße Ersahrungssätze wären, die wir nur durch äußere Mittheilung kennen lernen und um ihrer Nützlichkeit willen anerkennen sollen. Wenn das Wissen von sittlichen Normen nur etwas wäre, wie ein beliebiges anderes Wissen, wie z. B., daß die Erde eine Kugel sei und sich um die Sonne drehe, so könnte die Einrede eines Uebelthäters, jene Erfahrungssätze seien ihm nicht mitgetheilt worden, und wenn dies je geschehen sein sollte, so habe er sie wieder vergessen, was ja kein Verbrechen sein könne, nicht zurückgewiesen werden. Alles Strafrecht setzt in diesem Sinn eine sittliche Anlage als allgemein menschliches Gattungsmerkmal voraus.
Anders aber verhält es sich mit den erworbenen Bestandtheilen des Gewissens. Alle Menschen kennen den Unterschied von gut und böse und fühlen sich durch allgemein gültige Normen verpflichtet. Aber diese Normen selbst können außerordentlich verschieden sein und sind es tatsächlich, nach der Bildungsstufe von Zeitalter, Volk und Individualität.
Demnach müssen wir sagen, daß nicht nur alle Menschen überhaupt ein Gewissen, sondern daß sie insofern auch das gleiche Gewissen haben, als dessen einfache Grundfunction zu prüfen, ob unsere Handlungen mit den von uns als