272
Deutsche Rundschau.
bindend erkannten Normen, wie dieselben nun auch lauten mögen, übereinstimmen oder nicht, somit dies entscheidende Ja oder Nein sür alle dasselbe bleibt und nur dem einen Gewissen stärkere Versuchungen und geringere Beihülse aus sonstigen Faktoren geboten sein können, als dem andern.
Ich versuche noch von den gleichen Voraussetzungen aus, wenn auch nur in flüchtiger Andeutung die Fragen zu berühren, die über den psychologischen Standpunkt hinauszustreifen scheinen, ob und Wie die sittliche und die religiöse Anlage zusammenhängen, ob und wie insbesondere gerade das Gewissen als eine Stimme und Offenbarung Gottes bezeichnet werden kann.
Daß Etwas, was irren kann und thatsächlich in zahllosen Fällen irrt, sich nicht das Ansehen einer göttlichen Beglaubigung beilegen kann, ist von selbst einleuchtend. Ebenso wenig wird die Erfahrung zu bestreiten sein, daß thatsächlich und häufig mit einer sehr schwachen Empfänglichkeit sür religiöse Gefühle ein rechtschaffener Wandel, eine edle und gewissenhafte sittliche Lebensführung verbunden erscheint, und daß andererseits auch die ausgesprochenste Erregbarkeit sür Eindrücke religiöser Art keineswegs eine sichere Bürgschaft auch gegen grobe sittliche Verfehlungen bietet.
Gleichwohl ist das Verlangen des Menschengeistes nach einer Einheit seines gesammten Denkens und Lebens stark und mächtig genug, um den Gedanken nicht zu ertragen, daß die Erzeugnisse der höchsten menschlichen Triebe und Kräfte, daß die Ideen des Wahren, Schönen, Guten, der Gottesgemeinschaft, je in isolirte Spitzen neben und außer einander auslaufen, ohne daß auch sie noch irgend ein höheres Band unter sich verknüpfte. Wer nun aber in der Idee des Guten, in dem Gefühl der Gebundenheit an unbedingt werthvolle und verpflichtende Ziele und Normen unseres Willens den höchsten Maßstab menschlichen Werths oder ünwerths, die Beglaubigung unserer wahren Bestimmung erkennt, dem wird sich die Schlußfolgerung nahe legen, daß die sittliche Ordnung, die sür die Vernunftwesen unseres Planeten gilt, ein Glied und Bestandtheil des allgemeinen Weltplans sein, in den Gedanken und Zwecken der Gottheit ihre letzte Quelle haben möge. Die Folgerung ist nicht logisch zwingend, weil wir diesen allgemeinen Weltplan nicht kennen und aus Unerkennbares keine Schlüsse zulässig sind; sie ist mehr eine Ahnung, ein Glaube, im logischen Sinne eine Hypothese, die sich weder beweisen noch widerlegen läßt, aber für einen gegebenen Thatbestand eine Erklärung bietet, die wenigstens befriedigender ist als jede andere, von der wir wissen. Die Religionen aller Culturvölker machen nun aber diese Folgerung gleich zu einem Glaubenssatz und festen Ausgangspunkt. Da uns ein anderer Weg, eine Vorstellung von der Gottheit auszubilden, nicht offen steht, als daß wir das, was wir an uns selbst als das Höchste und Werthvollste erkennen, ihr in idealer Vollendung beilegen, so statten wir sie mit den poten- zirten sittlichen Eigenschaften der Weisheit, Gerechtigkeit, Liebe, Heiligkeit aus und leiten alle sittlichen Forderungen von ihrem Willen ab. Damit tritt auch das Organ, das diese sittlichen Forderungen erzeugt und vertritt, eben jener sittliche Trieb, der angeborene Theil des Gewissens, in eine höhere Stellung, in eine engere Verbindung mit den religiösen Anlagen ein, wie er nach der anderen Richtung hin auch mit dem Sinn sür Wahrheit und Schönheit Fühlung suchen wird.