Heft 
(1891) 67
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lieber die Lehre vom Gewissen.

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Nur wird sich dabei die philosophische Betrachtung von der theologischen immer darin unterscheiden, daß jene von unten nach oben, von dem gegebenen sittlichen Bewußtsein aus einen Zusammenhang mit der allgemeinen Weltordnung und den Willen der Gottheit schließt, diese von oben nach unten die sittlichen Gesetze als geosfenbarte Gebote Gottes verkündigt.

Ich habe an der Natur des Gewissens noch eine Seite hervorzuheben, an welche sich wie an die Unterscheidung des Angeborenen und Erworbenen weiter tragende Folgerungen anknüpsen.

Das Gewissen ist ausschließlich nach innen gewendet; es verkehrt nur mit seinem Inhaber; mit der Außenwelt hat es nichts zu schaffen; über fremde Handlungsweise urtheilen wir nicht mit dem Gewissen, sondern mit dem Ver­stand. Wir Wenden dabei zwar die gleichen Normen an, die wir für uns selbst als verpflichtend erkennen, nur in der Regel schärfer, mit weniger Nachsicht und Billigkeit als gegen uns selbst, weshalb ja die sittliche Meinung der Massen glücklicherweise stets strenger und besser ist als sie selber sind. Sodann ist das Gewissen darin auch etwas ganz Subjektives, daß es gar nichts Anderes und Weiteres erstrebt als den inneren Frieden, die Harmonie unseres Trieblebens; kein Trieb soll und kann ausgerottet werden, keiner so dominiren, daß die andern gar nicht mehr zum Wort kommen. Sein Ideal liegt in der indivi­duellen sittlichen Vollendung, in der höchsten Ausbildung der Persönlichkeit.

Nun gibt es eine höchst achtungswerthe, von hervorragenden Denkern ver­tretene Theorie, welche als oberstes Moralprincip nur das Wirken für fremdes Wohl, die selbstlose Liebe gelten läßt. Die Bemühung um die eigene Wohlfahrt und Glückseligkeit sei zwar natürlich und nicht zu tadeln, aber auch nicht ver­dienstlich, nicht sittlich im engeren Sinne des Wortes. Pflichten gegen sich selbst gebe es nur in so weit, als sie bezwecken, den Einzelnen tüchtig zu machen für ein gemeinsames Wirken.

Ich kann in dieser Auffassung nur eine, wenn auch bestgemeinte Einseitigkeit erblicken. Sie thut dem Grundprincip des sittlichen Triebs, eine Ordnung und Harmonie unseres gesammten vielgestaltigen Trieblebens zu schaffen, Gewalt an, indem sie das Gefühl des Wohlwollens nicht bloß zu einem hochgültigen Factor, sondern zum Alleinherrscher macht, dem alles Andere zu dienen hat. Ich sprach vorhin von einem Ausgleich der selbstischen und gesellschaftlichen Neigungen als einem der beiden Grundpfeiler aller Sittlichkeit; ich nannte es Ausgleich, nicht Naturordnung. Ich glaube mich dafür auf die höchste aller Autoritäten berufen zu dürfen. Der Spruch Christi lautet: Liebe Gott und Deinen Nächsten, wie Dich selbst, nicht: statt Deiner selbst; auch nicht: mehr als Dich selbst. Die Selbstliebe wird als das Natürliche, das Unvermeidliche vorausgesetzt.

In der That führt jene Ansicht, wenn man vollen Ernst mit ihr macht, zu ganz unhaltbaren Folgerungen.

Wenn die Glückseligkeit aller übrigen Menschen ein vollberechtigter Selbst­zweck ist, dem ich zu dienen habe, warum sollte nur meine eigene eine Aus­nahme machen und zwar so, daß nur ich nicht darauf bedacht sein dürfte, Wohl aber alle übrigen Menschen hiezu verpflichtet wären. Was müßte dabei herauskommen, wenn Jeder des Andern Geschäfte betreiben, ihm die Güter und Genüsse ver-

Dsutsche Rundschau. XVII, 8. 18