Heft 
(1891) 67
Seite
274
Einzelbild herunterladen

274

Deutsche Rundschau.

schaffen und aufdringen sollte, auf die er selbst zu diesem Zweck zu verzichten sich verbunden halten müßte, wenn Jeder das Seelenheil, die geistige und sittliche Bildung des Nebenmenschen für die Hauptsache halten. Jeder Jeden belehren und bessern wollte, statt vor Allem vor der eigenen Thüre zu kehren.

Die Sache ist damit freilich aus die Spitze getrieben und nicht so schlimm gemeint. Das aber scheint mir unzweifelhaft, daß sich die sittlichen Gebote keineswegs im Bemühen um fremdes und gemeines Wohl erschöpfen. Sehr Vieles, was Jedermann zur Sittlichkeit rechnet, was von Jedem sein sittliches Gefühl verlangt, hat keine oder nur sehr fernliegende Beziehungen zu den Neben­menschen. Schon die formellen Verbindungen aller Sittlichkeit, Selbstbeherrschung, Konsequenz, Beharrlichkeit, Geduld, Mäßigkeit, Besonnenheit, noch mehr die Bezwingung der Leidenschaften und Begierden, die ganze innere Zucht des zer­fahrenen, unsteten, widerspruchsvollen Wollens, die gesammte Charakterbildung, soll alles Dies nicht einen Werth in sich selbst haben, sondern nur um des Nutzens willen, den es für ein erfolgreiches Wirken zu fremdem Glück haben kann? Wenn die Wahrheit, die Weisheit und die Erkenntniß, wenn die Freude am Schönen in Natur und Kunst zu den edelsten und menschenwürdigsten Gütern gehören, kann sie Jemand anders genießen, als der, der sie für sich erstrebt und erwirbt, und soll ihr Werth stets nur im Mittheilen und Weiter­geben bestehen? Alles wahre religiöse Leben, der unmittelbare, andächtige Auf­schwung der Seele zu Gott, wird und muß er nicht immer etwas Subjektives, am Einzelnen Hastendes bleiben, wofür Mittheilung und Gemeinschaft zwar förderlich, aber niemals bedingend und unerläßlich sein kann? Sollte, um dies bei den Moralisten beliebte Beispiel zu gebrauchen, ein Robinson allein aus einer- verlassenen Insel darum keine sittlichen Aufgaben mehr haben, weil er keinen Nebenmenschen hat, das heißt: sollte er aufhören ein Mensch zu sein? Es ist aber gar nicht einmal nöthig, zu so vereinzelten und abnormen Fällen zu greisen. Es sind allezeit Hunderttausende und Millionen in der Gesellschaft, für welche das Gebot, fremdes Wohl zu fördern, keine oder nur sehr wenig praktische Be­deutung haben kann. Es sind alle Unmündigen, alle Kranken und Gebrechlichen, die von fremder Hülfe leben, die Unzähligen, die im Bann der Selbsterhaltung, im harten Kampf ums Dasein gar nicht daran denken können, auch noch fremdes Wohl zu fördern. Müßte man denn schließlich nicht dazu gelangen, zwei Sitten­gesetze aufzustellen, ein höheres und volles für die darbietenden, activen, nach Mitteln und Bildung bevorzugten Personen, ein niedrigeres und halbes für die Empfangenden, die Passiven, die Leidenden, die keine selbstlose Liebe zu bethätigen vermögen?

Allein die Sache näher angesehen will mir dies Alles doch mehr nur wie ein Gegensatz von Schulmeinungen erscheinen, welche für die Praxis des Lebens kaum in Betracht kommen. Ob der Einzelne seine eigene Vervollkommnung, die sittliche Arbeit an sich selbst oder die Förderung seines Nächsten und des Gemeinwohls zum Leitstern für sein Wollen und Handeln erhebt, das mag für die Theorie recht weit auseinander rücken und wie ein unausgleichbarer Dualismus erscheinen, in der Wirklichkeit werden sowohl derjenige, der sich morgens beim Erwachen fragt, was kann ich heute für fremde Wohlfahrt leisten, wie Derjenige,