lieber die Lehre vom Gewissen.
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der sich die sittliche Durchbildung seiner Persönlichkeit und seines Charakters vor Augen stellt, wenn sie verständige Leute sind, zu dem gleichen Schlußergebniß gelangen, daß sie an dem bestimmten Platz, auf welchen sie sich gestellt finden, die Aufgaben, die ihr Tagewerk mit sich führt, gewissenhaft und mit dem ganzen Aufwand ihrer Kräfte zu vollbringen haben. In dem Gefühl der Pflichten, die Jedem wieder in besonderer Gestalt nach Alter und Geschlecht, nach Stand und Beruf, zu Hause und nach außen vorgezeichnet sind, verliert sich der Gegensatz von Selbst- und Nächstenliebe, der der Theorie so viel Schwierigkeiten bereitet.
Ich will mich auf ein kleines aber Nächstliegendes Beispiel berufen. Wenn ich hier eine Rede halte und bemüht bin der Aufgabe nach Kräften gerecht zu werden, so würde ich der Wahrheit nicht die Ehre geben, wenn ich sagen wollte, daß die Liebe zu meinen Zuhörern oder Zuhörerinnen, oder die Meinung und Absicht, ihre Bildung zu fördern, einen erheblichen Antheil an meinen Motiven habe. Aber noch viel weniger treibt mich die Selbstliebe dazu; ich fühle es als eine Belästigung, von der ich gerne enthoben wäre. Ich thue einfach, was mir obliegt und thue es so gut ich kann. Und wenn man dann auch noch fragen wollte: warum erfüllst du deine Pflicht, so müßte ich antworten: absehend von äußeren Motiven, weil ich sonst mir Vorwürfe zu machen hätte und unbefriedigt wäre. Und wenn man dann immernoch weitersragte: warum mußt und willst du denn aber befriedigt sein, so gibt es meines Erachtens keine andere Antwort mehr als etwa die ganz allgemeine: jedes beseelte Wesen, es mag wollen oder nicht, wird und muß nach Befriedigung, nach Stillung der Strebungen trachten, die in seine Natur gelegt sind, und diejenigen, die auch das noch Egoismus und Eudämonismus nennen, die wissen entweder überhaupt nicht mehr, was sie wollen, oder suchen sie nun eben ihre Befriedigung gerade darin, daß sie sich noch klüger, sittlich strenger und konsequenter Vorkommen als andere Menschenkinder.
Das ist das Bedeutende und Entscheidende in dem Begriff der Pflicht, daß er alle anderen Motive in sich auslöst. Die Frage, warum erfüllst Du Deine Pflicht, stellen wir nicht mehr; wir bedürfen und wissen keine Antwort daraus. Es ist dies der einzige vernünftige Sinn des sonst anfechtbaren und mißverständlichen Satzes, man müsse das Gute um des Guten willen thun. Es ist Wohl auch das, was Kant mit der Verwerfung jedes Motivs der Glückseligkeit gemeint haben kann, nur daß er ohne Noth zu einer unhaltbaren Polemik gegen die sittliche Berechtigung aller der Momente sortschritt, aus welchen sich der sachliche Inhalt unserer Pflichten im Besonderen allein aufbauen läßt.
Die gesellschaftliche Sitte und Ordnung weist Jedem begrenzte Kreise von Thätigkeiten, bestimmte Ziele und Tagewerke zu, der Jugend, die sich für die Ausgaben der Zukunft tüchtig zu machen, und dem Mann, der seinem Erwerb nachzugehen hat, der Hausfrau, den Eltern, Kindern, Geschwistern, dem Bürger in Gemeinde und Staat, dem öffentlichen Diener, dem Gelehrten und Künstler, den Herrschenden und den Dienenden. Sie wissen in der Regel nicht und brauchen sich nicht darüber zu besinnen, ob sie dies um ihret- oder um Anderer willen thun; fast in allen Fällen wird Beides nebeneinander Platz finden. Im Einzelnen und in der Ausführung behält dabei Selbstsucht und Nächstenliebe den weitesten
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