Ueber die Lehre vom Gewissen.
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Sofort nun wende dich nach innen.
Das Centrum findest du da drinnen,
Woran kein Edler zweifeln mag.
Wirst keine Regel da vermissen;
Denn das selbständige Gewissen Ist Sonne deinem Sittentag.
Er sieht in dem Gewissen die Sonne, die auch in die dunkelsten Lebenspfade noch Helles Licht Wirst, fügt aber das bedeutsame Beiwort, „das selbständige Gewissen", hinzu und kann darunter nichts Anderes verstehen als das von jeder äußeren Autorität, der weltlichen wie der geistlichen "unabhängige, nur dem reinen und unbeirrten sittlichen Gefühl folgende Gewissen.
An einem anderen Ort, in einer seiner Spruchsammlungen, sagt Goethe in Frage und Antwort: „Wie kann man sich selbst kennen lernen? Durch Betrachten niemals, Wohl aber durch Handeln. Versuche deine Pflicht zu thun und du weißt gleich, was an dir ist. Was aber ist deine Pflicht? Die Forderung des Tages."
Wir sehen aus diesen und den vorausgegangenen Erwägungen: die Schwierigkeiten, unser Leben nach der Idee des Guten zu ordnen, liegen nicht darin, daß wir nicht wüßten, was wir zu thun, wie wir zu handeln haben. Gewissen und Vernunft sind sichere Leitsterne; nur fehlen ihnen die Zwangsmittel, um die widerstrebenden Begierden zu bändigen. Sie sind wie zarte Pfropfreiser einer edleren Gattung eingesenkt in das Gestrüppe wild wuchernder Zweige. Allein so zart und machtlos diese Keime erscheinen mögen, so sind sie doch unzerstörbar und bilden eine unverlierbare Mitgift der menschlichen Ausstattung. Auf ihrem Fundament ruht der ganze Bau menschlicher Gesittung. Wenn nach den Lehren alter und neuester Materialisten, Positivisten und Utilitarier die sittlichen Vorschriften nur aus der Erfahrung ihrer Nützlichkeit für die Gesellschaft erwachsen wären und ihr Ansehen schöpften, so wäre es schlimm um sie bestellt. Wären Humanität, Schonung und Pflege der Schwachen und Gebrechlichen, der entbehrlichen, unbrauchbaren, schädlichen Elemente der Gesellschaft nicht von unserem sittlichen Gefühl gefordert, ihre praktische Nützlichkeit wäre oft sehr anfechtbar, und auch das vielberufene Gesetz vom Kampf ums Dasein könnte nur sehr ungünstigen Erfolg in Aussicht stellen. Aber im Laufe der Zeiten fassen jene zarten Schößlinge Wurzel und gelangen zu festerem Bestand; durch die Anregungen hervorragender Individuen bildet sich ein Grundstock sittlicher Begriffe, der von Geschlecht zu Geschlecht anwächst, in Recht und Sitte, die den Einzelnen zugleich emporheben und zwingen, allmälig zur Macht und äußeren Autorität gelangt. Ohne einen angeborenen sittlichen Trieb, ohne das diesen in sich tragende und fortbildende Gewissen wäre die Geschichte der Menschheit nicht verständlich, deren weiterer Fortschritt nicht denkbar.